Giraffengold
Ab 8 Jahre | Ca. 30 Minuten | Sarah Gutmann
Darum geht's
Einst herrschte Harmonie in der Tierwelt, in der die goldenen Giraffen für das Gleichgewicht sorgten. Doch dann machten die Menschen Jagd auf die goldenen Giraffen. Das stürzte die Welt in großes Ungleichgewicht. Der Junge Bokar, träumt eines Nachts von Anandi der letzten goldenen Giraffe und erfährt von der magischen Frucht der Vernunft, die die Giraffe und die Welt retten kann.
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Es war einmal vor langer Zeit, als noch die Tiere die Welt beherrschten. Alle Tiere waren glücklich und es herrschte ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen. Zu dieser Zeit kannte jedes Tier die Prophezeiung der goldenen Giraffen. Es hieß, dass immer eine goldene Giraffe durch die Savanne streifen müsse, damit das Gleichgewicht der Welt bestehen bliebe und es allen Tieren der Welt an nichts fehle. Und auch die Tiere, die nie in ihrem Leben eine Giraffe sehen würden, wie die Walfische im tiefen Ozean oder die Polarbären am Nordpol, wussten doch tief in ihrem Inneren, dass die goldenen Giraffen der Grund dafür waren, dass sie ein glückliches Leben führen konnten.
Die Steppentiere wiederum kannten und verehrten die prächtigen goldenen Giraffen, die majestätisch durch die Savanne schritten. Sie hatten ein wunderschönes goldenes Fell und ihre großen Flecken glänzten kupferfarben in der Sonne. Goldene Giraffen galten als besonders weise, sie brachten Glück und konnten in die Zukunft sehen. Deswegen suchten viele Tiere bei Kummer oder Leid Rat bei einer der goldenen Giraffen. In der alten Zeit streiften noch viele der wunderschönen Geschöpfe durch die Savanne.
Aber dann begann die Ära der Menschen. Und je mehr Platz die Menschen für sich einnahmen, umso weniger Platz blieb den Tieren. Das allein hätte noch zu einem glücklichen Ende führen können, hätten die Menschen friedlich mit allen Tieren zusammengelebt. Aber die Menschen zog das prächtige Aussehen der goldenen Giraffen an und sie schufen sich ihre eigene Wahrheit und ihre eigene Legende: Den Mythos des Giraffengolds, das seinen Besitzer überaus mächtig, reich und glücklich machen sollte.
Damit begann eine furchtbare Jagd auf die goldenen Giraffen und immer mehr der majestätischen Tiere wurden eingefangen und in Käfige gesteckt. Dort sollten sie ihren Besitzern Glück bringen und ihnen zu Macht verhelfen. Aber nichts davon geschah. Die Giraffen wurden nur furchtbar krank vor Kummer und Einsamkeit und immer mehr von ihnen starben in Gefangenschaft. Nur noch wenige Giraffen streiften durch die Steppe und beinahe täglich wurden es weniger. Die Welt begann krank zu werden. Die Ozeane, Seen, Flüsse und Teiche wurden giftig und viele Tiere wurden schwer krank. Das Gras verdorrte und eine unheimliche Dürre plagte die Tiere der Steppe. Andernorts kam es zu großen Überschwemmungen oder großflächige Waldbrände raubten den Tieren ihr Zuhause und ihre Familien. Und wieder anderswo fegten Stürme mit verpesteter Luft über das Land und machten alle Lebewesen krank. Es begann eine schreckliche Zeit für die Tiere und jeden Tag wurde es schlimmer.
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Die goldenen Giraffen zogen sich immer mehr zurück, aber die Menschen versuchten mit allen Tricks Herr der prächtigen Geschöpfe zu werden. Viele Wilderer machten Jagd auf diese magischen Geschöpfe, um sich eine goldene Nase an ihnen zu verdienen. Und dann eines Tages gab es nur noch eine einzige goldene Giraffe in der Savanne. Sie wurde von den anderen Tieren „Anandi“ gerufen, was so viel wie „Glück“ hieß. Anandi konnte sich eine Zeit lang vor den Wilderen verbergen, in dem sie rastlos durchs Land zog und nur nachts aus ihren Verstecken trat, um zu trinken und zu fressen. Die anderen Tiere halfen Anandi sich zu verstecken. Doch letztendlich fingen die Wilderer auch sie.
In einer heißen Sommernacht fanden sie die letzte goldene Giraffe, die friedlich am Wasserloch trank. Sofort machten sie Jagd auf Anandi und trieben sie in einer Schlucht in die Enge. Dort hatten die Wilderer große Netze gespannt, die Anandi auf ihrer Flucht vor den Menschen nicht sehen konnte und sie rannte ungebremst hinein. Sofort zogen sich die Netze zusammen. Anandi wehrte sich in Panik und kämpfte um ihre Freiheit, wusste sie doch, dass sie diese nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen Tiere bewahren musste. Doch es half nichts. Sie war den Wilderen in die Falle gegangen.
Anandi wurde an einen reichen König verkauft. Sein Name war „Alem“, was so viel bedeutet wie „Herrscher der Welt“ und genau das wollte er werden. Zur Belustigung des Königs und seines Hofstaates wurde Anandi in einem goldenen Käfig im Innenhof des Palastes eingesperrt. Dort sollte sie ihm dienen und den König mächtig und reich machen, denn er wollte Krieg gegen seine Nachbarkönigreiche führen. Dass er genau jetzt das Glück hatte, die letzte goldene Giraffe zu bekommen, sah er als gutes Omen. Schließlich kannte jeder die Legende des Giraffengolds, die seinen Besitzer reich und mächtig machen würde. Er nannte die junge goldene Giraffe „Gathoni“ – die Gefangene.
Ein großer Krieg brach aus unter den Königreichen, hatte Alem sich doch vorgenommen, seinem Namen alle Ehre zu machen und der mächtigste Herrscher der Welt zu werden. Die Zeit verging. Anandi trauerte in ihrem goldenen Käfig und war furchtbar einsam. Draußen vor dem Palast und in allen Reichen tobte ein gewaltiger Krieg, der dazu führte, dass nicht nur die Tiere furchtbar litten, sondern auch die Menschen. Wähnte Alem sich doch zu Beginn des Krieges bereits als Sieger, schließlich hatte er als Einziger eine goldene Giraffe in seinem Besitz, begannen auch ihm nun langsam Zweifel zu kommen. Viele gute Männer hatte er bereits verloren, doch sie konnten die anderen Reiche nicht unterjochen.
Nun aber konnte er auch keine Schwäche mehr zeigen und seine Truppen zurückziehen. Er wurde wütend. Ihm stand es zu, der Herrscher der Welt zu werden, sonst niemandem! In seinem Wahn bezichtigte er Anandi, schuld an diesem Übel zu sein, was über ihn und sein Volk hereingebrochen war. Seine „Gathoni“, wie er Anandi immer nannte, war kein Glücksbringer, sondern ein Vorbote allen Übels gewesen! Das sollte sie ihm büßen und um die Ordnung wieder herzustellen, hatte er einen Plan gefasst.
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Am nächsten Morgen versammelte er sein Volk um sich. Mit hoch erhobenem Haupt erklärte er der Menge, dass er, König Alem und künftiger Herrscher der Welt, persönlich die Götter um Hilfe und Unterstützung in dieser schweren Zeit gebeten habe und die Götter ihm eine Antwort gesandt hätten. Er sprach: „Die Götter sagten, wir wären einem Trugbild erlegen. Die Legende des Giraffengolds und des damit verbundenen Glücks und Reichtums ist nicht wahr. Und so haben wir uns mit Gathoni nicht das Glück, sondern das Unheil in unser Reich geholt.“
Durch die Menge ging ein ängstliches Raunen.
„Doch habt keine Angst! Die Götter haben mir auch einen Ausweg gezeigt! Und deswegen werden wir ihnen zu ehren in einer Woche die goldene Giraffe opfern! Anschließend wird das Glück wieder in unser Land einziehen!“ Die Menge jubelte, sehnte sie sich doch so sehr nach Ruhe und Frieden.
Anandi hatte aus ihrem goldenen Käfig die Ansprach des Königs verfolgt. Mit traurigen Augen blickte sie durch die Reihen der Versammelten und dachte mit schwerem Herzen an alle Tiere der Welt, die ein furchtbares Leben erwarten würde. Doch was konnte sie allein nur ausrichten? Sie war den Menschen vollkommen ausgeliefert. In solch einer Situation konnte ihr nur noch ein Zauber heraushelfen.
Plötzlich erblickte sie in den Reihen einen kleinen Jungen. Dieser blickte sie mitleidig und entsetzt an. Er kämpfte sich langsam durch die Reihen in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich. Anandi stockte der Atem. Sie hatte diesen Jungen schon einmal gesehen! Dies war lange her: In einem ihrer prophetischen Träume hatte er eine Rolle gespielt. Leider wusste sie damals noch nichts mit diesem Traum anzufangen, hatte sie zuvor doch noch nie eine Prophezeiung gehabt, in der ein Mensch vorkam. Sie spürte in ihrem Herzen eine große Verbundenheit zu diesem Menschenkind. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Der Menschenjunge blickte sie erstaunt an. „Ich kenne dich!“, dachte Anandi so laut sie konnte und schaute dem Menschenkind dabei tief in die Augen. Genauso kommunizierte sie mit den anderen Tieren. Bei Menschen hatte dies jedoch noch nie geklappt.
Der Junge bekam große runde Augen. Anandi dachte es noch einmal und sandte „Ich kenne dich!“ zu dem Menschenkind. Der Junge starrte sie weiter mit großen Augen an, aber zeigte ansonsten keine Regung. Anandi versuchte es noch einmal: „Ich kenne dich!“ Sie entdeckte keine weitere Regung bei dem Menschenjungen.
„Das wäre auch einfach zu schön gewesen.“
Gerade wollte Anandi sich abwenden, da hörte sie in ihrem Kopf: „Ich kenne dich auch!“
Anandi war sofort hellwach und wandte sich dem Jungen zu. Er war durch die Reihen noch näher an ihren Käfig herangetreten. Mit seinen großen braunen Augen blickte er fest hinauf zu der goldenen Giraffe. „Ich habe dich im Traum gesehen!“, dachte der Junge.
Anandi konnte ihn in ihrem Kopf hören, ganz so wie es bei den Tieren immer war.
„Ich dich auch!“, antworte sie ihm in Gedanken. „Kannst du dich noch an den Traum erinnern?“
Der Junge dachte nach. Dann antworte er: „Ja, ich habe dir eine Frucht zu fressen gegeben, aber ich weiß nicht, was für eine. So eine hatte ich noch nie gesehen.“
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Sie dachte über ihren damaligen Traum nach. Sie hatten beide denselben Traum gehabt. Er hatte sie in der Prophezeiung gefüttert mit einer kleinen, rotgelben, herzförmigen Frucht.
Was sollte das bedeuten?
Anandi durchzuckte es wie bei einem Blitzeinschlag: „Die Früchte der Vernunft! Der Menschjunge ist der Schlüssel zur Rettung!“
Der Junge schaute sie fragend an. „Was meinst du damit? Wie soll ich dich retten? Was sind das für Früchte?“, fragte er die goldene Giraffe.
„Die Früchte der Vernunft könnten meine und eure Rettung bedeuten. Diese kleinen gelbroten Herzen könnten euren König vom Irrsinn befreien. Sie lassen den, der sie isst, wieder klar sehen. Damit könntest du nicht nur mich retten, sondern diesen vollkommen unsinnigen Krieg zwischen den Menschen beenden. Es könnte wieder Frieden geben!“ Die Augen des Jungen leuchteten auf.
Anandi fuhr fort: „Aber in einem hat euer König recht: Ich gehöre nicht in diesen Käfig. Ich muss durch die Savanne streifen. Das ist meine Aufgabe. All die Verwüstung und Verpestung der Welt kamen dadurch, dass die Menschen die goldenen Giraffen eingefangen haben. Wir sind magische Wesen und gehören in Freiheit, damit wir unsere Welt schützen können. Wirst du mir helfen und die Früchte holen?
Anandi schaute dem kleinen Menschenjungen tief in die Augen. Er nickte tapfer: „Ich werde dich und uns alle retten! Es ist eine große Ungerechtigkeit, dass du schon so lange eingesperrt bist. Was muss ich tun?“
Die Giraffe dachte kurz nach, dann antwortete sie: „Du musst in die magische Höhle von Amari unter dem Mondfelsen, hinter der Ebene von Fria. Die Früchte der Vernunft wachsen in dieser geheimnisvollen Höhle unter dem Mondfelsen, genauso wie viele andere magische Pflanzen und Dinge dort aufbewahrt werden. Der Zugang öffnet sich um Mitternacht und kann nur von jemandem betreten werden, der reinen Herzens ist. Wir brauchen nur eine einzige Frucht der Vernunft, das sollte genügen! Du darfst sonst nichts anfassen oder pflücken! Du wirst sie erkennen, wenn du sie siehst. Merk dir, du darfst sonst nichts anfassen oder pflücken! Aber pass auf den Wächter der Höhle auf. Es ist ein Kobold und er wird eine Gegenleistung von dir für die Frucht verlangen.“
Der Junge blickte sie mit großen Augen an: „Und was soll ich ihm geben als Gegenleistung?“
Anandi überlegte: „Gib ihm drei goldene Haare von meinem Schwanz. Das wird ihn sicher überzeugen.“
Dann drehte sich um, damit der Junge drei goldene Haare aus der Quaste ihres Schwanzes zupfen konnte. Das Menschenkind tat wie ihm geheißen und versuchte ganz vorsichtig zu sein. Anandi wandte sich ihm wieder zu.
Er fragte: „Und du glaubst, dass ich die Höhle betreten kann?“
„Ganz sicher, mein Kleiner! Dein Herz ist rein und unschuldig, genauso wie das Herz jedes Tieres, daher können wir auch miteinander kommunizieren. Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Aber beeil dich bitte, die Zeit drängt.“ Der Junge nickte und steckte die drei goldenen Haare der Giraffe in seine Hosentasche.
Der König hatte mittlerweile aufgehört, von seinen Heldentaten zu reden und die Menschenansammlung löste sich langsam auf.
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Anandi und der Junge hörten eine Frauenstimme rufen: „Bokar? Wo bist du? Was machst du denn da? Komm, wir gehen nach Hause. Beeil dich!“
Der Junge wandte sich der jungen Frau zu: „Ich komme, Mutter!“
An Anandi gewandt sprach er laut: „Ich werde dich nicht enttäuschen!“
Er drehte sich um und rannte seiner Mutter entgegen. „Bokar – der Glücksbringer! Hoffentlich bringt er uns allen das Glück zurück.“, dachte Anandi.
Alle Hoffnung ruhte nun auf dem Menschenkind.
Bokar ging mit seiner Mutter nach Hause. Er dachte angestrengt über die Worte der goldenen Giraffe nach. Auch er spürte eine Verbindung zwischen sich und der magischen Giraffe. Bokar war sehr tierlieb und Ungerechtigkeit konnte er sowieso nicht leiden. Er wusste, dass König Alem die letzte goldene Giraffe bei sich im Schlosshof eingesperrt hatte, aber warum diese nicht in Freiheit durch die Savanne ziehen durfte, hatte sich ihm nie erschlossen. Natürlich war Bokar auch neugierig gewesen auf die goldene Giraffe. Nur deswegen war er heute mit seiner Mutter mit zur Kundgebung des Königs gegangen.
Sein Vater kämpfte schon seit vielen Monden in den Kriegen des Königs und nun war er mit der Mutter allein. Als Bokar die goldene Giraffe sah, schoss die Erinnerung an den Traum wie ein Blitz durch seinen Kopf. Hatte er zuvor nicht mehr an diesen Traum gedacht, so konnte er sich doch jetzt daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Er hatte in dem Traum nicht irgendeine goldene Giraffe aus den Geschichten, die Mutter ihm vorm Schlafengehen immer erzählte, gesehen. Nein, er hatte DIESE goldene Giraffe gesehen. Und sie hatte ihn gesehen! Das hatte etwas zu bedeuten. Er musste ihr unbedingt helfen und sie befreien. Dieses wunderschöne Geschöpf durfte nicht geopfert werden. Und wenn die Giraffe Recht hatte, dann konnte er damit auch den Krieg beenden.
Das würde bedeuten, dass er so vielen Menschen und Tieren Leid ersparen könnte und sein Vater würde endlich heimkehren. Bokar war fest entschlossen: Heute Nacht, nachdem seine Mutter eingeschlafen war, würde er mit Vaters Pferd zum Mondfelsen reiten. Dieser lag nur einige Stunden entfernt. Wenn er zügig ritt, konnte er es bis Mitternacht dorthin schaffen. Er zog die drei goldenen Haare der Giraffe aus seiner Tasche. Wie wunderschön sie glänzten! Er packte sie in einen kleinen Beutel, den er sich umhängen konnte, auch eine Taschenuhr und eine kleine Lampe packte er sicherheitshalber hinein. Anschließend nickte er sich selbst zur Bestätigung zu. Er würde es schaffen, auch wenn er sich gerade nicht so mutig fühlte, wie er es gerne hätte.
Beim Abendessen beeilte sich Bokar. Anschließend half er der Mutter den Tisch abzuräumen und aufzuräumen, damit sie beide schnell ins Bett konnten. Ein bisschen wunderte sich die Mutter, war er doch sonst nicht so sehr bemüht Ordnung zu halten. Fast hätte sie seine Pläne zerstört, da sie noch Kleidung flicken wollte, doch dann entschied sie sich glücklicherweise dazu, es am nächsten Tag zu tun. Sie war erschöpft von dem harten Tag und ging schließlich doch zu Bett.
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Bokar wartete, bis es ganz ruhig in ihrer Hütte war. Dann stand er leise auf, griff sich seinen Beutel und huschte aus der Hütte und über den Hof zum kleinen Pferch, in dem Vaters Araberhengst stand. Der große braune Hengst sah Bokar neugierig an, hatte er doch nicht mit so einem späten Besuch gerechnet. Bokar berichtete dem Hengst von seinem Plan.
Dann zäumte er das Pferd, öffnete den Pferch und schwang sich lautlos auf den blanken Rücken des Pferdes. Leise schlichen sie gemeinsam durchs Dorf. Erst am Dorfrand schlug Bokar ein höheres Tempo an und ritt in Richtung Mondfelsen. Der Mond war fast voll und spendete den nächtlichen Abenteurern sein silbernes Licht zur Orientierung.
Nach etwa zwei Stunden erreichten sie die Ebene von Fria – der Freiheit. Bokar kramte die Taschenuhr aus seinem Beutel. Nur noch eineinhalb Stunden bis Mitternacht. Er ließ den Hengst im gestreckten Galopp über die Ebene jagen. Jetzt nur keine Zeit verschenken! Der Ritt war hart und anstrengend, sowohl Pferd als auch Reiter wurden die letzten Kräfte abverlangt. Und die Uhr tickte unaufhaltsam. Doch noch konnten sie es bis Mitternacht an den Mondfelsen schaffen.
Zehn Minuten vor Mitternacht erreichten die Beiden völlig erschöpft, aber glücklich es rechtzeitig geschafft zu haben, den Mondfelsen. Der große Felsen schimmerte fast weiß im Mondlicht. Dies und seine Form, die so aussah wie ein abnehmender Halbmond, verliehen dem Felsen seinen Namen. Unter ihm sollte sich die magische Höhle von Amari befinden. Bokar umrundete das große Felsgestein. Wo lag der Eingang? Er rutscht vom Pferd und trat an den Fels heran. Noch hatte er keinen Eingang entdeckt. Es war eine Minute vor Mitternacht und Bokar spürte Panik in sich aufsteigen. Was, wenn er scheiterte?
Er hockte sich hin und legte die Hand auf den Felsen, um diesen zu untersuchen. Und dann geschah es: Dort, wo er seine Hand auflegte, leuchtete der Fels auf und verschwand. Bokar griff ins Leere. Das Loch wurde so groß, dass er hindurch passte.
Er wandte sich noch einmal an sein Pferd: „Warte du hier. Ich hole die Frucht. Ich bin gleich zurück.“
Bokar holte die Taschenlampe aus seinem Beutel, knipste sie an und kroch dann auf allen vieren in den Tunnel hinein. Mulmig war ihm zu Mute, doch er sprach sich selbst Mut zu. Er musste es einfach schaffen. Nach etwa hundert Metern erreichte er eine Höhle. Und was für eine Höhle! Bokar blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Die Höhle war erhellt von tausenden kleinen Steinen in der Wand, welche in den unterschiedlichsten Farben leuchteten. Viele seltsame Pflanzen wuchsen hier und schlängelten sich am Fels entlang oder wanden sich korkenzieherartig in die Höhe. Sie trugen bunte Blüten und Früchte. Bokar sah lilafarbene Beeren an einem kleinen strauchähnlichen Gewächs und große silberne Blüten an einer Kletterpflanze, die sich fast bis zur Höhlendecke erstreckte.
Zwischen den Pflanzen liefen kleine Bäche plätschernd über den Felsen und versorgten die Pflanzen mit Wasser. Auch einige große bunte Insekten sah er zwischen den Pflanzen emsig hin und her fliegen. Ein handtellergroßer regenbogenfarbener Schmetterling flatterte knapp an seinem Kopf vorbei und mehrere pinkfarbene, hummelähnliche Wesen machten sich an den Blüten zu schaffen.
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Er spürte die Magie, die hier in der Höhle wohnte, in der Luft vibrieren. Die Magie zog an ihm, er konnte es fühlen. Er ließ sich von ihr leiten und fand sich kurze Zeit später vor einer palmähnlichen Pflanze wieder. Er schaute nach oben. Ihre Früchte waren klein, etwa so groß wie ein Goldtaler. Sie waren gelbrot und herzförmig. Bokar staunte: Die Früchte der Vernunft! Er hatte sie gefunden! Bokar streckte sich und erreichte gerade so eine kleine Frucht, die er abpflückte. Ehrfurchtsvoll drehte und wendete er die Frucht in seiner Hand und betrachtete sie.
Da zog plötzlich ein dunkler Nebel auf. Bokar wich vor dem Nebel zurück. Der Nebel verdichtete sich und es materialisierte sich ein kleines Männchen mit großer Nase, giftgrünen Augen und grimmigem Gesicht vor ihm. Bokars Herz klopfte wild und seine Knie wurden weich. Der Wächter! Er hatte ihn ganz vergessen. Der Wächterkobold trat einen Schritt auf Bokar zu. „Ungezogener Bengel! Wie kommst du hier herein? Was tust du hier? Pflückst einfach meine wertvollen Früchte ab. Dafür wirst du büßen!“, fuhr ihn der Kobold mit kratziger Stimme an.
Bokar fand vor Schreck kaum seine Stimme wieder. Als er sprach, klang seine Stimme brüchig: „Ich komme in Frieden, Wächter der magischen Höhle von Amari! Ich soll für die letzte goldene Giraffe eine Frucht der Vernunft holen. Diese Frucht kann die Giraffe und uns alle vielleicht retten, denn unser König Alem ist von Sinnen und möchte die Giraffe opfern.“
Der Kobold musterte den Jungen misstrauisch mit zusammengekniffenen Augen: „Eine goldene Giraffe sagst du? Was solltest du Bengel wohl mit einer goldenen Giraffe zu schaffen haben? Du bist doch ein unverhohlener Lügner!“ Bokar bekam es mit der Angst zu tun. Was würde der Kobold mit ihm anstellen, wenn er ihn nicht überzeugen konnte? Seine Beine begannen zu zittern und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. In seinem Inneren tobte ein Sturm, doch er versuchte ruhig zu bleiben und Sicherheit auszustrahlen, schließlich erzählte er keine Lügen. Vorsichtig zog er die drei goldenen Haare der Giraffe aus seiner Tasche. Die Augen des Kobolds wurden rund. Alle Kobolde lieben Gold und erkennen auf den ersten Blick, ob es echt ist.
Bokar sprach: „Diese drei goldenen Haare hat mir die Giraffe für dich mitgegeben. Als Gegenleistung für die Frucht der Vernunft.“
Bokar hielt dem Kobold das Giraffenhaar entgegen. Dieser nahm es in seine großen Hände und schnupperte daran.
Seine Miene wurde weicher: „Wahrlich! Echtes Giraffengold! Davon habe ich seit vielen Jahren keines mehr gesehen. Du sprichst die Wahrheit, Knabe. Dann will ich dir helfen und dir die Frucht überlassen. Aber wage es nicht, diese Höhle je wieder aufzusuchen!“, knurrte ihn der Wächterkobold an. Bokar nickte. „Ich danke dir!“
Schnell verstaute er die Frucht, die er noch immer in den Händen hielt, in seinem Beutel und eilte so schnell ihn seine Beine trugen nach draußen.
Sein Pferd wartete bereits ungeduldig vor dem Mondfelsen auf ihn. Er tätschelte es erleichtert, schwang sich auf dessen Rücken und galoppierte über die Ebene von Fria zurück in Richtung des Palastes.
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Als die Sonne aufging erreichte er müde den Königspalast. Nun hatte er zwar die Frucht, aber der König musste diese ja auch noch essen. Er rutschte erschöpft vom Pferd und band dieses in der Nähe des königlichen Gartens an einen Zaun. Er hatte sich bereits auf dem Heimritt einen Plan überlegt, wie er dem König die Frucht unterjubeln konnte. Bokar kletterte über den Zaun in den königlichen Garten. Hier hinten hielten sich glücklicherweise seltener Wachen auf und patrouillierten nur von Zeit zu Zeit am Zaun entlang. Dies wusste er von einem Freund, der als Küchenjunge im Palast arbeitete.
Durch diesen Freund war Bokar auch auf seinen Plan gekommen: Er würde sich als Küchenjunge einschleusen und dem König die wertvolle Frucht zum Frühstück servieren. Bokar schlich im Schutz der Büsche bis ins Waschhaus. Dort suchte er sich die passende Kleidung eines Küchenjungen heraus und verstaute die wertvolle Frucht in seiner Küchenschürze. Anschließend machte er sich auf den Weg in die Küche, den Weg kannte er aus den Erzählungen seines Freundes.
Außerdem musste er eigentlich nur seiner Nase nachlaufen, denn es wehte ihm aus der Küche ein köstlicher Duft entgegen. Als er die Küche betrat herrschte ein reges Treiben. Alle bereiteten die Speisen für den König und seine Familie vor. Er kam also gerade rechtzeitig! Da das Personal seit Kriegsbeginn häufiger wechselte, fiel er als neuer Küchenjunge auch nicht weiter auf. Niemand beachtete ihn so recht. Trotzdem zitterten Bokar leicht die Hände als er die Küche betrat. Er wollte sein Glück nicht ausreizen, daher beeilte er sich, die Frucht aufzuschneiden und auf einem Teller zu drapieren. Das Tellerchen reichte er wie selbstverständlich einer Magd, die gerade dabei war, das Tablett mit den Speisen zu bestücken. Das Tellerchen fand seinen Platz und wurde kurz darauf aus der Küche in den Speisesaal getragen. Nun konnte Bokar nur noch die Daumen drücken, damit alles glatt lief. Unauffällig zog er sich zurück, wechselte im Waschhaus seine Kleidung, kletterte zurück über den Zaun und ritt mit dem Hengst zurück ins Dorf.
Der König trat kurze Zeit darauf ins Esszimmer und nahm auf seinem königlichen Stuhl Platz. Er ließ sich das Frühstück schmecken und griff wie immer auch nach seinem Obstteller. Er wunderte sich nur kurz über die Form der Frucht, biss dann aber genüsslich hinein. Ein berauschendes Gefühl breitete sich in seinem Mund aus. Er kaute genüsslich und es prickelte auf der Zunge. Ein Feuerwerk der Sinne entfachte diese Frucht und gierig verspeiste er die gesamte Frucht. Als er den letzten Bissen herunter geschluckt hatte, breitete sich eine wohlige Wärme in ihm aus. Diese Wärme strömte von seinem Bauch in sein Herz und letztendlich in seinen Kopf. Als die Wärme verflog schüttelte König Alem den Kopf.
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„Was tue ich hier bloß?“, fragte er sich selbst. „Dieser Krieg muss ein Ende haben. Noch heute!“
Eilig stand er auf und verließ seinen Speisesaal. Er berief sofort eine Versammlung seiner Generäle ein, denn er wollte seine Truppen zurückziehen lassen. Er schickte Reiter aus mit Friedensverträgen an alle Nachbarkönigreiche. Anschließend hielt er im Palasthof eine Rede vor seinem Volk, in der er sich für seine Fehlentscheidungen entschuldigte. „Und noch etwas muss ich wieder gut machen!“, sagte er.
„Die goldene Giraffe, die ich seit Jahren hier im Käfig halte, soll wieder in die Freiheit entlassen werden! Sie gehört nicht hierher. Sie muss durch die Savanne streifen, sodass sie dort den Tieren Glück bringen kann. Ich verspreche, noch heute ihre Befreiung zu veranlassen!“
Anandi hatte aus ihrem goldenen Käfig heraus die Rede des Königs mit angehört. Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen und sie verspürte unendliche Freude. Der König war zur Besinnung gekommen! Der Menschenjunge namens Bokar hatte es also geschafft! Sie war unendlich erleichtert! Sie war gerettet und sie sollte ihr Schicksal in der Steppe wieder erfüllen können. Sie ließ den Blick über den Palasthof schweifen. Von dort kam bereits der Menschenjunge auf sie zugelaufen.
Sie blickten sich tief in die Augen: „Ich danke dir von ganzem Herzen. Du hast uns alle gerettet.“, sandte sie ihm in Gedanken zu.
Der Junge strahlte und hatte eine Träne im Auge. Er verbeugte sich tief vor Anandi: „Es war mir eine Ehre dir helfen zu können.“
Der König hielt sein Versprechen und noch am selben Tag wurde Anandi zurück in die Steppe gebracht. Alle Tiere begrüßten die letzte goldene Giraffe überschwänglich. Anandi freute sich und sie sah etwas in der Zukunft: Nun sollte eine glückliche Zeit anbrechen! Die Welt würde sich erholen. Der Krieg würde beendet werden, die Väter zu ihren Kindern heimkehren und die Könige aller Reiche Frieden vereinbaren. Und sie, Anandi – die letzte goldene Giraffe, würde bis ans Ende aller Tage durch die Savanne streifen und über die Welt und die Tiere wachen.
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