Kapitel 1: Endlich Sommerferien!
Darum geht's
Ella und Henri haben endlich Sommerferien. Doch ganz sicher wollen sie ihre Ferien nicht in der Wohnung verbringen. Ein Ferien-Zuhause muss her!
Die Nachbarskinder Ella und Henri klettern über den Zaun hinter ihrer Wohnsiedlung. Mit einem kleinen Sprung landen sie auf dem Feldweg, der direkt in einen kleinen Wald führt. Beide haben Rucksäcke geschultert, in die sie Proviant für den ganzen Tag gepackt haben. Den ersten Sommerferientag wollen sie hier draußen im Wald verbringen, ihrem gemeinsamen Lieblingsort.
Trotzdem macht Henri ein finsteres Gesicht.
Seine beste Freundin Ella zieht besorgt eine Augenbraue nach oben. „Was ist los?“
Henri sieht aus, als wären all seine Piratenbücher verschwunden. „Meine Eltern interessieren sich nur noch für das Baby“, jammert er aufgebracht. „Max will ständig trinken. Er saugt Mama noch aus!“
„Wie ein kleiner Milchvampir?“, fragt Ella und springt mit einem eindrucksvollen Knurren vor Henri.
Ihre gekräuselten Löckchen wippen, ihre dunklen Augen blitzen. In geduckter Haltung hebt sie die Hände, als hätte sie gefährliche Krallen und fletscht die Zähne.
„Haha! Sehr witzig!“, antwortet Henri und schiebt seine Brille zurecht. „Du weißt selbst, wie es ist, wenn keiner Zeit hat.“ Blasser als sonst stechen seine Sommersprossen noch mehr ins Auge. So gar die auf seinen dünnen Armen.
Im Gegensatz zu Henri hat Ella braune Haut, die auch in diesem Sommer eine Nuance dunkler geworden ist. Das Mädchen verzieht den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln. Sie deutet auf ihr Zuhause, das sich seit der Scheidung ihrer Eltern überhaupt nicht mehr heimelig anfühlt.
„Klar weiß ich das. Mutti arbeitet viel zu viel. Deshalb bin ich ja fast immer allein da drin. Und mein Vater fährt mit seiner neuen Familie ans Meer. So unfair!“ Seufzend holt sie eine Packung sauren Fruchtgummi aus ihrem Rucksack und schiebt sich einen zitronengelben Streifen in den Mund. Zu Henris Unverständnis verzieht Ella dabei keine Miene. Kauend fährt sie fort: „Wir dürfen uns aber nicht unterkriegen lassen!“
Henri presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
Ein zweiter saurer Streifen landet in Ellas Mund. Sie kaut und schluckt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Dann beugt sie sich verschwörerisch zu Henri herunter. „Als Ältere schlage ich vor, dass …“
„Du bist gerade mal zwei Monate älter als ich!“, unterbricht Henri seine Freundin aufgebracht. „Wir sind beide acht Jahre alt.“
„Hast ja recht!“, gibt Ella widerwillig zu. „Und jetzt hör zu! Keiner von uns fährt in den Urlaub. Aber da drinnen“, Ella fuchtelt mit der Hand zwischen den beiden Wohnhäusern hin und her, „wollen wir unsere Sommerferien auf gar keinen Fall verbringen, stimmt´s?“
Heftig nickend bestätigt Henri: „Bestimmt nicht! Ständig muss ich bei irgendwas helfen. Das nervt!“ Er legt den Kopf schief. „Beim Backen helf ’ ich aber echt gern. Heute Morgen hab ich mit Papa meine Lieblingsmuffins gebacken.“
Augenblicklich hört Ella auf zu fuchteln. Sie läuft um Henri herum und starrt auf seinen Rucksack, als hoffe sie, hindurch sehen zu können. „Schokodrops-Muffins?“, fragt Ella und schleckt sich über die Lippen. „Sind da auch welche für uns drin?“
Grinsend dreht sich Henri zu Ella um. „Na klar! Ich hab‘ sogar die doppelte Menge Schokodrops in den Teig gemischt!“ Dann flüstert er ernst: „Aber jetzt sag schon: Was wolltest du vorschlagen?“
Ella stopft die Fruchtgummitüte zurück in den Rucksack, stemmt die Hände in die Hüften und verkündet: „Wir bauen uns ein eigenes Ferien-Zuhause!“
„Ein Ferien-Zuhause?“, plappert Henri begriffsstutzig nach. Dann werden seine Augen groß.
„Oh, vielleicht ein Piratenschiff? Ich wäre Störtebeker und du … du könntest die Piratenbraut Anne Bonny sein. Nur eben mit schwarzen Haaren.“ Eifrig erklärt er: „Weißt du, Anne Bonny hatte eigentlich feuerrote Haare. Sie war absolut furchtlos und konnte richtig gut fluchen.“
Ella kichert. „Fluchen kann ich auch! Aber ich hab‘ eine bessere Idee.“
Mit zusammengekniffenen Augen sieht sich Ella um, bis ihr Blick an einer Rotbuche am Waldesrand hängenbleibt. Entschlossen marschiert sie auf den hochgewachsenen Baum zu und berührt die Rinde.
Etwas enttäuscht rollt Henri mit den Augen und stapft hinter Ella her. Am Baum angekommen, hebt er den Kopf, um die mächtige Krone zu betrachten. Staunend schätzt er: „Der ist bestimmt über zehn Meter hoch!“
Ella atmet tief ein und aus, so wie sie es von ihrer Mutter gelernt hat, die – wenn sie einmal länger als eine Stunde zu Hause ist – immerzu Yoga macht. Es würde den Geist öffnen, sagt Ellas Mutter. Und da Ella Geister großartig findet, hat sie sich angewöhnt, in bedeutungsvollen Situationen tief zu atmen.
Das Mädchen fährt mit den Händen über die glatte Rinde der Buche und raunt: „Es ist der perfekte Baum, meinst du nicht?“
„Der perfekte Baum wofür?“, wundert sich Henri und runzelt seine Sommersprossenstirn.
Ella formt die Hände zu einem Dreieck und zwinkert ihm zu.
Kurz darauf glätten sich Henris Gesichtszüge. „Ja!“, ruft er laut. „Er ist perfekt!“