Illustration von einem Wichtel in einem Wald im Herbst

Willa Wichtels Herbstschatz

📚 Kindergeschichte ab 6 Jahren

🕔 Lesezeit: ca. 38 Minuten

📝 Thema: Herbst / Fantasy

✍️ Geschichte von Anne-Katrin Paulke

Beschreibung

Willa Waldwichtel hat im Schlummerwald das erste goldene Blatt des Herbstes gefunden! Soll es auch das Letzte sein?

Der Hüter des Waldes hat es ihr anvertraut, bevor er in einen tiefen Schlaf gefallen ist. Niemand hatte sich mehr an seine Taten erinnert. So ist mit ihm der Zauber der Natur gegangen.
Wird es Willa Waldwichtel gemeinsam mit ihrer Familie und den Waldbewohnern gelingen, den Hüter des Waldes und damit die Farben des Herbstes wieder zurückzubringen?

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Kleiner Dieb! Gib zurück, was ist deiner Schwester lieb!

„Gib mir sofort das Blatt zurück! Du Tollpatsch wirst es noch zerreißen!“ Willas Hand schnellte nach vorne. Doch ihre Fingerspitzen streiften nur noch den knittrigen Hosenstoff, in dem die Beine ihres kleinen Bruders steckten. Mit einem lauten Lachen schlug Laurin Wichtel seiner Schwester die eigene Zimmertür vor der wütend gekräuselten Nase zu. Durch das dicke Holz hörte Willa ihn dumpf mit spöttischer Stimme rufen: „Lahmes Schneckchen, kriecht ums Eckchen! Fang mich, wenn du kannst!“ 

Oh, wenn sie Laurin gleich zu fassen bekam, durfte er sich schon einmal auf ein Bad im grünschleimigen Krötenteich freuen! Zum Glück hatte sie heute Morgen die neu von Oma gestrickten Ringelsocken angezogen. Mit denen konnte man besonders gut über den Eichenfußboden im Flur rutschen. „Ha! Gleich hab ich dich!“ In ihrem Bauch kribbelte und krabbelte es wie unter einem Stein ertappte Käfer, als sie den erschrockenen Blick bemerkte, den ihr Laurin über die Schulter zuwarf. An Willas Lippen zupfte ein schadenfrohes Lächeln. Bevor es aber noch breiter werden konnte, verschwand es plötzlich. „Pass auf! Du wirst gleich…!“ Ihre Warnung kam zu spät. Steinpilze, Trompetenpfifferlinge, Möhren, braune Haarlocken, moosgrüne Mäntel und eine Brille flogen durch die Luft. 

Vor Willa lagen Papa Waldwichtel und Laurin wie ein braun-grünes Knäuel auf dem Küchenfußboden. „Fliegendreck und Käferspucke!“, kam es krächzend daraus hervor. Willas erschrockener Schrei wandelte zwischen Herz und Zunge zu einem Schnauben. Erbost prustete sie es heraus. Wenn Laurin noch fluchen konnte, war ihm auch nichts passiert! Das Wichtelmädchen verschränkte die Arme vor der Brust, sodass die bunten Holzperlen ihrer fünf Lieblingsketten leise klackerten. Die fuchsroten Brauen streng zusammengeschoben, beugte sie sich zu ihrem zerknirscht dreinschauenden Bruder hinunter. „Nur zu! Benutze weiter solch unfeine Wörter! So gibst du Papa noch mehr Gründe, warum er dich ausschimpfen soll!“Als Antwort streckte Laurin seiner Schwester frech die Zunge heraus.

Doch Papa Willobald hatte sowieso nicht sehr gut hören können. Mit einem “Plopp” zog er gerade Laurins haarigen Zeh aus seinem Ohr und tastete mit zusammengekniffenen Augen nach der verlorenen Brille. Während Willobald sich langsam wieder aufrichtete, brummte er: „Fliegendreck und Käf….“ Der Wichtelpapa hielt kurz inne und schüttelte missmutig den Kopf. „Ich habe den ganzen Nachmittag gebraucht, um im Wald die Zutaten für das Abendessen zu finden!“ Er wischte mit dem Zipfel seiner karierten Weste über die verschmierten Gläser und setzte sich die nun leicht schiefe Brille wieder auf die ebenfalls leicht schiefe Nase – die hatte allerdings schon vor dem Zusammenprall einen Knick. Als Papa Willobald wieder klar sehen konnte, funkelte er seine nun doch etwas verlegen drein schauenden Wichtelkinder verärgert an. „Ich hoffe, es gibt einen seeeehr guten Grund, warum meine Pilze auf dem Boden und nicht im Topf liegen!“

Bevor aus dem vorlauten Mund ihres Bruders eine Lüge springen konnte, sagte Willa schnell: „Laurin hat mir etwas sehr Wertvolles weggenommen!“ Sogleich rappelte sich der Wichteljunge auf. „Willa hat mich durch das Haus gejagt! Sie ist Schuld!“ „Du Dieb hättest nicht weglaufen sollen! Gib mir jetzt sofort mein Blatt zurück!“, forderte sie ihn in einem scharfen Ton auf. Laurin ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit Absicht sehr langsam, strich er sich eine wirre, braune Locke aus der Stirn. Dann griff er doch in das Ledersäckchen an seinem Gürtel. „Guuut! Du kannst es wiederhaben. Ich werde in den Wald spazieren und ganz bestimmt eines finden, das noch viel besser aussieht! Vielleicht noch orangener! Oder noch gelber! Mit einem schöneren Mu..ster…“ Aus seinem Tasten wurde ein Wühlen. Aus dem selbstsicheren Glänzen in seinen Augen ein aufgeregtes Flimmern. „Es muss doch hier drin sein! Ich hatte das Säckchen ganz fest zugebunden!“ Willa schmeckte auf ihren Lippen den salzigen Geschmack einer Träne, ohne gemerkt zu haben, wie sie über ihre heiße Wange gelaufen war.

Papa Wichtel wischte sie mit seinen rauen Fingern liebevoll weg. Er holte die andere Hand hinter seinem Rücken hervor, und ließ etwas Leuchtendes vor Willas Augen tanzen. Sie schniefte. Erkannte durch den Tränenschleier erst nicht, was es war. Aber dann… „Da ist es ja! Mein Blatt! Du hast es gefunden!“ Jubelnd warf sie sich in Papas Arme. Mit der Wange ganz fest an seinem Kugelbauch wurde sie von seinem rumpelnden Lachen durchgeschüttelt. „Das Blatt lag genau neben meiner Brille“, verriet Papa schmunzelnd und schob Willa behutsam ein Stück von sich. „Vorsicht, meine Liebe, sonst zerdrückst du es noch!“ Er legte ihr das Blatt eines Ahornbaumes auf die ausgestreckte Hand.

Ihre Haut kribbelte leicht, gerade so als würde das warme Leuchten auch auf sie übergehen wollen. Dieses Blatt war ja so viel mehr! In seiner Mitte floss ein Sonnengelb über noch hellgrüne Funken, als Erinnerung an den Sommer. Die spitzen Ränder waren in ein warmes Tiefrot getaucht –  ein Versprechen auf Tage mit Spaziergängen durch bunte Wälder, süßen Apfelkuchen von Mama und gemütliche Geschichtennachmittage vor dem prasselnden Kaminfeuer.

Auch in Laurins Bauch kribbelte es. Allerdings war es nicht die Freude über solch einen schönen Schatz, sondern das schlechte Gewissen. An dem nun überglücklichen Gesichtsausdruck seiner Schwester erkannte er, von welch großer Bedeutung dieses kleine, bunte Ding für sie war. Den Kopf gesenkt, schlurfte er vor sie hin und murmelte: „Es tut mir leid. Ich hätte dir das Blatt nicht einfach wegnehmen sollen.“ Er schaute mit einem schiefen Grinsen zu ihr herauf. „Oder einfach besser darauf aufpassen müssen?“ Willa presste die Lippen fest zusammen. Sie wusste noch nicht, ob sie ihm diesen Schrecken so einfach verzeihen konnte. Papas Brummstimme füllte die angespannte Stille zwischen den Geschwistern: „Wie wäre es, wenn ihr zusammen darauf aufpasst? Es ist womöglich das erste bunte Blatt des Herbstes und damit endlich…“

Winde wehen, im Schlummerwald bleib nicht stehen!

Papa Wichtels weitere Worte gingen in einem Heulen und Klopfen unter. Die erschrockenen Blicke der Wichtelfamilie schossen zu den runden Fensterglasscheiben über der Küchenspüle. Papa atmete schwer aus. „Das sind die Sturmgeister. Sie rütteln an den Blättern der Bäume. Die wilden Winde werden es aber nicht schaffen, denn wie ihr wisst, sind die Blätter noch grün und hängen fest an den Ästen!“ „Dabei ist es schon lange Herbst!“, warf Laurin ein. Papa nickte gewichtig. „Das ärgert die Sturmgeister. Sie wollen bunte Blätter fliegen sehen! So pusten und prusten sie noch stärker!“

Willobald fuhr sich in Gedanken versunken durch den langen, moosgrünen Bart. „Wo hast du denn das Blatt gefunden?“, wollte er von Willa wissen. Das Wichtelmädchen klappte den Mund auf und dann aber gleich wieder zu. Sie zögerte mit der Wahrheit. Papa legte fragend den Kopf schief. „Na? Hast du es etwa schon vergessen?“ Das Wichtelmädchen senkte schnell den Blick, als würde zwischen ihren Schuhspitzen die Antwort stehen. „Nur raus mit der Sprache!“ Er zwinkerte seiner Tochter aufmunternd zu. Willa ließ die angehobenen Schultern sinken. „Vielleicht habe ich nicht auf Mamas und deinen Rat gehört. Vielleicht habe ich beim Blumenpflücken die Grenze zum Schlummerwald überschritten. Und mich ganz vielleicht…ein kleines bisschen verlaufen…“ Als sie Papas erschrockenen Blick sah, fügte Willa noch schnell hinzu: „Aber zum Glück hatte ich das herbstleuchtende Blatt dabei! Es hat mir geholfen, wieder den richtigen Weg zu finden.“ Papa Wichtel hob den Zeigefinger. „Im Schlummerwald sollte kein Wichtel und erst recht kein Wichtelkind unterwegs sein! Dauert lauern die Mumumratze!“ Willa schob die Unterlippe vor. „Der Name klingt doch gar nicht so gefährlich…“ „Ohh, das sind sie aber! Glaub mir mein Kind!“ Papa senkte die Stimme, als glaubte er, seine Worte würden von falschen, spitzen Ohren gehört werden können. „Wenn es dunkel wird, wühlen sie sich aus ihren Erdverstecken. Berühren sie dich auch nur flüchtig mit der Pranke, wächst die ebenso ein dichter, schwarzer Pelz, wie sie einen tragen!“ Jetzt lief Papa aufgeregt im Kreis und raufte sich die letzten zehn Haare auf seinem Kopf. „Oh, und nicht zu vergessen die Flederschatten…!

 

Sei gut zu Baum und Tier, der Hüter des Waldes dankt es dir!

„Flederschatten? Was erzählst du unseren Kindern schon wieder für Gruselgeschichten?“ „Mama!“, rief Laurin erleichtert, dem schon etwas mulmig zumute geworden war. Emmi Wichtel stellte ihren großen Henkelkorb, aus dem es lecker nach den Walnussplätzchen von Oma Trudi roch, auf dem runden Küchentisch ab. Ihre vom Wind zerzausten, fuchsroten Locken krabbelten Willa und Laurin an der Nase, als sie ihnen wie immer ein Küsschen auf den Scheitel gab. „Das sind keine bloßen Geschichten!“, erklärte Papa Wichtel etwas gekränkt. „Es war gar nicht sooo dunkel und gefährlich!“, versuchte Willa ihren Ausflug etwas harmloser zu machen. Mama tippte ihr auf die sommersprossige Nasenspitze. „Was hast du denn im Schlummerwald gesucht?“ Willa grinste sie breit an. „Ich habe eher etwas gefunden!“

Stolz zeigte Willa Mama das Blatt. Mama Emmi fuhr mit dem Finger behutsam über die tiefroten Spitzen. „Wie sah der Baum aus, von dem es runtergefallen ist?“, fragte sie leise und wandte dabei den Blick nicht von dem Herbstschatz ab. Willa musste nicht lange überlegen: „Sehr merkwürdig! Als ich das leuchtende Blatt zwischen Moos und Gras entdeckt hatte, habe ich voller Vorfreude hinauf, in den Wipfel des Baumes, geschaut. Knochige Äste formten sich dort zu einer riesigen Krone. Doch an keinem hing ein buntes Blatt – nicht einmal ein grünes!“ Das Wichtelmädchen zog die Stirn in Falten. In das Kastanienbraun ihrer Augen schlichen sich Schatten, als sähe noch einmal genau vor sich, was ihr solches Unwohlsein beschert hatte. „Der Stamm… Er hatte so gruselig ausgesehen, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen ist. Ich wollte weglaufen, und konnte mich doch nicht von ihm abwenden.“

„Wwwie hat denn der Stamm ausgesehen?“ Die Furcht ließ Laurins Stimme immer noch zittern, doch seine Neugier war stärker. Willa legte die Finger leicht an ihre Wangen. Fühlte die Hitze, die während des Erzählens hinein gestiegen war. Sie schluckte einmal kräftig, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden und fuhr fort: „Ich meinte, in dem knochigen Stamm das Gesicht eines alten Mannes erkannt zu haben. Seine borkige Stirn war von tiefen Rillen durchzogen, sodass die breiten Brauen weit nach unten gedrückt wurden. Er trug einen dichten Bart aus Rindenstücken. Den darunter fest verschlossenen Zackenmund konnte ich nur ausmachen, da selbst das darüber gewachsene Moos an einigen Stellen die morsche Rinde nicht mehr am Platze halten konnte. Mitten aus dem knorrigen Gesicht ragte mir eine riesige Knollnase entgegen. Und seine Augen… Sie waren nur zwei lange Schlitze mit dicken Ringen darunter. Dabei sah es für mich nicht so aus, als habe er die Lider für einen friedlichen Schlaf gesenkt, sondern in tiefer Traurigkeit geschlossen.“

Mama seufzte. „Das muss der Hüter des Waldes sein.“ Sie setzte sich und zog Laurin auf ihren Schoß. „Eure Oma Trudi hat mir viel über ihn erzählt. Er wacht über alles Leben von der Maus im Gras bis zum Falken in den hohen Tannen. Fügt jemand einem Lebewesen des Waldes Schaden zu,  folgt er diesem auf dem Fuße. Manchmal als ein garstiger Zwerg. Manchmal als ein schrecklicher, Keule schwingender Riese. Seine Gestalt kann er wandeln, aber sein Name bleibt stets gleich. „Der Halvor kommt und wird dir eine Lehre erteilen. Also achte jedes Wesen und jede Pflanze, jeden Baum!“, raunte man sich in allen Häusern zu.“ „ Der ist nun aber wirklich schrecklich!“, nahm Papa diese Geschichten als Beweis für die im Schlummerwald lauernden Gefahren. Mama zwinkerte ihm zu und lächelte sanft. „So schrecklich war er gar nicht. Ihr müsst wissen: Halvor belohnte auch diejenigen, die es gut mit den Tieren und Pflanzen meinten. Hatte man beispielsweise am Tage nicht genug Beeren oder Pilze für eine volle Mahlzeit gefunden, klopfte es am Abend dreimal kräftig an der Tür. Wie groß war die Freude, als man davor einen großen Korb gefüllt mit all den Köstlichkeiten des Waldes fand.“ Mamas ganzes Gesicht lächelte, doch dann wurde ihre Miene ernst. „Nun… Die Stimmen, die von den Taten des Waldhüters berichteten, wurden leiser. Und wer von ihm gerügt wurde, wollte das nicht vor den anderen zugeben. Der Hüter des Waldes geriet langsam in Vergessenheit. Er trat immer seltener in Erscheinung, bis erst nur noch die Großmütter von ihm wussten und dann fast niemand mehr. Die Enttäuschung und Traurigkeit darüber hat ihm wohl den Sinn und die Freude am Leben genommen. Er muss zu dem alten, knorrigen Ahornbaum erstarrt sein und mit letzter Kraft dein buntes Blatt hervorgebracht haben.“ Mamas Erzählung endete hier. Wie zum Beweis, dass alles stimmte, was sie gesagt hatte, heulten draußen die wilden Winde noch einmal auf.

Willa blinzelte ganz schnell hintereinander, damit die Mitleidstränen nicht länger in ihren Augen brannten. Ihre Stimme war ganz kratzig, als sie feststellte: „Deshalb nimmt die Natur im Wald nicht ihren Lauf! Der Hüter das Waldes hat sich nun vollkommen zur Ruhe begeben.“ Ihre Augen weiteten sich bei einer erschreckenden Erkenntnis: „Was passiert jetzt mit unserem Wald und all den Wesen, die hier leben? Wenn sich die Jahreszeiten nicht mehr ändern, kommt die Natur nicht zur Ruhe und kann damit auch nicht im Frühling wieder neu erblühen!“ Willa lief aufgebracht auf und ab. „Wir müssen den Hüter des Waldes unbedingt wieder aufwecken! So viel steht schon einmal fest!“ Sie blieb stehen, ließ sich matt auf den Stuhl neben Mama sinken und legte den Kopf auf ihre Schulter. Willa schniefte und flüsterte die Frage, die sie eigentlich hinausschreien wollte: „Aber wie?“

 

Sing und drehe dich im Tanz, dann erstrahlt alles wieder im alten Glanz!

Das Wichtelmädchen konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Ein dicker Tropfen entkam ihren Augenwinkeln und kullerte auf das Ahornblatt. Ein hohes “Pling” ertönte. Das war es aber nicht, was Willas Herz wild in ihrer Brust schlagen ließ. Dem Herbstschatz entstieg eine Melodie! Gesummt und gebrummt von einer knarzigen Stimme. Unter das Summen mischte sich ein lieblicher, rosenblattweicher Gesang. Mama hatte mit eingestimmt. Sie kannte das Lied:

Tief im Walde, da ist er Zuhaus’.
Halvor ist Gebieter über alle Wesen: vom Falken bis zur Maus.
Ihn zu treffen ist eine große Ehr’.
Kommet all mit Blumenkranz, Musik und Tanz daher!
Habt ihr sein Wohlwollen einmal geweckt,
bleibt das Gute nicht länger vor euch versteckt.

Mit der letzten Zeile wurde das Leuchten des Blattes schwächer. Die geheimnisvolle Stimme verstummte. Mama summte die Melodie noch ein bisschen nach. Langsam öffnete sie die Augen, die sie für diesen Moment geschlossen hatte. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen sagte sie:„Ich erinnere mich wieder… Wenn ich als Wichtelkind einmal traurig war, konnte mich Oma Trudi mit diesem Lied stets aufmuntern. Es hat mir gezeigt, dass ich nicht in meiner Grummellaune bleiben musste. Nach nur ein paar fröhlichen Tönen, konnte ich gar nicht anders, als laut mitzusingen und zu tanzen.“

„Das ist es!“, platzte es aus Willa laut heraus. Laurin sprang von Mamas Schoß herunter. „Du holst aber jetzt nicht deine Geige aus dem Schrank, oder? Die schiefen Klänge würden mich nämlich überhaupt nicht fröhlich machen!“, rief er erschrocken. In Willas Augen blitzte es schelmisch auf. „Oh, doch! Genau das mache ich! Und du wirst hinter mir her tanzen, wenn ich den Wichteldorfbewohnern, Brombockeln, Pilzlinge, Moosweiblein, Wiesenfeen, Steintrollen und all den anderen Waldwesen dieses Lied vorspiele! Wir müssen sie davon überzeugen, mit uns zu dem Ahorn im Schlummerwald zu kommen! Denn…“ „…wenn ihr dieses fröhliche Spektakel vor dem knorrigen Baum aufführt, wird das Halvor aus seinem Schlaf wecken!“, erkannte Papa ganz richtig. Willa nickte so kräftig, dass sie sich die roten Locken aus dem Gesicht pusten musste.

Laurin war immer noch nicht ganz von der Idee seiner Schwester überzeugt. „Aber draußen stürmt es doch! Und eben habe ich auch ganz deutlich Regentropfen gegen die Fensterscheibe prasseln gehört! Wer hat denn bei diesem miesen Wetter Lust, uns zu folgen?!“ „Wenn wir nichts unternehmen, wird es ewig so grau und nass bleiben! Willst du das?“, fragte Willa erbost. Laurin seufzte schwer. „Nein, natürlich nicht!“, gab er kleinlaut zu. Willa fasste ihren Bruder mit einem stolzen Grinsen an den Schultern und schob ihn in Richtung Flur. „Na dann, los geht’s!“

„So wartet doch!“ Mama war kurz verschwunden  gewesen und kam nun eilig die Treppe herunter. Sie trug ihr schönstes Kleid. Darauf hatte sie so viele bunte Stoffblüten genäht, dass es aussah, als schaue sie aus einem Blumenstrauß heraus. Über dem Arm trug sie vier graue Umhänge aus dicker Wolle. Etwas aus der Puste, blieb sie vor den Geschwistern stehen. „Ihr wolltet doch nicht etwa ohne Papa und mich gehen?!“ Willa schnappte sich einen Umhang und holte unter Mamas anderem Arm die mitgebrachte Geige hervor. „Auf keinen Fall! Ihr sollt ja schließlich nicht die beste Musikaufführung, die es in diesem Wald je gegeben hat, verpassen! Papa und Laurin stöhnten beide laut auf. Mama und Willa lachten. Dann eilte Familie Borkel zur Rettung des Hüters des Waldes hinaus in den Sturm.

 

Wiesenfee, oh so schön. Steintroll bleib doch stehen!

Die wilden Winde zerrten an ihren Kleidern. Laurin hielt mit beiden Händen verzweifelt seine Kappe fest. „He! Lasst das gefälligst!“, schrie er ihnen entgegen. Die Winde kicherten frech. Sie heulten jedoch laut auf, als Willa den ersten Ton auf ihrer Geige spielte. Mama und Papa stimmten sogleich das Lied von Halvor an. Laurin presste schlecht gelaunt die Lippen zusammen, aber dann öffnete er sie doch, um so kräftig wie er nur konnte mitzusingen. Den ollen Sturmgeistern würde er es zeigen! Sein lauter Gesang würde ihr blödes Heulen übertönen!

Oh, wie sich die wilden Winde anstrengten. Sie sausten und brausten um die Wichtel herum. Willa konnte nur mit viel Kraft einen Schritt vor den anderen setzen. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber löste die flinken Finger nicht eine Sekunde von ihrer Geige. Eine große, warme Hand legte sich an ihren Rücken und gab ihr Halt. Willa wandte sich um. Papa! In seinem Gesicht konnte sie dieselbe Entschlossenheit erkennen, die in ihrer Brust hell brannte. Nein! Sie würden nicht aufgeben! Nicht, bevor nicht wenigstens ein paar der Waldbewohner ihr Lied gehört hatten!

So stapften und tanzten sie tapfer weiter. Der Wald hatte nun auch seine letzten Farben verloren. Über die Bäume hatte sich ein tristes Regenwolkengrau gelegt. Willa taten schon langsam die Arme und Beine weh. Alles um sie herum war in Bewegung. Blätter raschelten. Äste schlugen gegeneinander. Die Bäume knarzten. Nur Willa hatte das Gefühl, dass sie nicht vorankamen. Sie blieb stehen. Mitten in dem Getöse und der Dunkelheit. Und schloss die Augen. Während sie weiter auf der Geige spielte, dachte sie an all die schönen Tage, die sie in diesem Wald bisher erleben durfte. Wie sie jauchzend über eine hellgrüne Frühlingswiese rannte, im Sommer mit den Fröschen um die Wette in den Badesee sprang, im Herbst mit den Eichhörnchen im Laub Verstecken spielte und im Winter einen schiefen Schneewichtel mit Laurin baute. Das Gefühl von Zufriedenheit und Glück rauschte warm durch ihren Körper. Auf der Höhe ihres Herzens blitzte es orangerot auf.

„Das Herbstblatt in deiner Manteltasche! Es leuchtet!“ Die aufgeregte Stimme von Mama rief Willa wieder in das Hier und Jetzt zurück. „Spiel weiter!“ Mama folgte mit ihrem Blick etwas. Auch Laurin und Papa wandten staunend ihre Köpfe. Willas Augen wurden groß, als sie es auch sah: Von den Seiten ihrer Geige stiegen die Töne in den Herbstfarben des Blattes wie Glühwürmchen auf. Sie flogen in die Dunkelheit hinaus. Hin zu den Blumenkelchen, in denen die Wiesenfeen schlummerten, in die Erdlöcher zu den Brombockeln, unter die Hüte der Pilzlinge und zu den tiefen Höhlen der Steintrolle. Sie alle wurden von ihrem wundervollen Klang verzaubert und herausgelockt: der wundervollen Melodie des Liedes über den Hüter des Waldes.

Nicht lange und schon kamen der Familie Borkel die ersten neugierigen Feen mit wehenden Blütenkleidchen entgegen geflattert. Sie schlugen schnell mit ihren schillernden Flügeln, um nicht von den Winden davongetragen zu werden. Mit zwei langen Schritten war Willa bei ihnen und hielt ihren Umhang auf, damit die winzigen Wesen darunter Schutz finden konnten. „Hast du diese wunderschöne Musik gemacht? Wir würden so gerne mitsingen! Dürfen wir?“, piepsten sie daraus hervor. „Ja und ja!“, freute sich Willa. „Aber dafür müsst ihr uns noch ein Stück begleiten, denn das Lied ist für den Hüter des Waldes. Er ist eingeschlafen. Deswegen färben sich die Blätter nicht bunt. Wenn ihr mit uns mitsingt und tanzt, wird er aufwachen und den Wald wieder in die schönsten Farben kleiden!“ „Das hört sich toll an! Wir kommen mit!“, riefen die Feen und klatschten munter in die Händchen, sodass sich auf Willas grauem Umhang goldener Feenstaub verteilte.

Plötzlich erbebte der Boden unter ihren Füßen. Im dunklen Unterholz vor ihnen knackte und rumpelte es. Bäume wurden wie Streichhölzer umgeknickt. Die Feen schrien auf und versteckten sich tiefer in Willas Umhang. Mama und Papa traten an Willas und Laurins Seite. Da wurden auch schon zwei hohe Tannen vor ihnen von zwei Pranken auseinander geschoben. Willa musste den Kopf weit in den Nacken legen, um in das grobe Gesicht des Steintrolls blicken zu können. Seine hellgrauen Granitaugen wanderten zwischen den vor Schreck erstarrten Waldwichteln hin und her. „Waaaarten!“ Die Stimme des Trolls klang, als würden schwere Steine über Felsboden rollen. Er griff an den Ledergürtel, der seine massige Mitte zusammenhielt, und drehte ihn. Einmal. Zweimal. Dreimal. Jetzt trug er vor seinem dicken Bauch eine Trommel. Es rumpelte, als sich seine harten Gesichtszüge zu einem Lächeln verschoben. Der Steintroll hob eine Pranke und ließ sie auf die Trommel niedersausen. Er tippte mit den klobigen Fingern vorsichtig darauf – was immer noch ziemlich laut war – nur um dann mit Freude noch einmal wild zu trommeln. Dann ließ er seine Säulenarme nach unten hängen und schaute die Borkels stolz an. „Uuunnd guuut?“ Die Wichtel waren noch zu erschrocken und zugleich erstaunt, um ihm eine Antwort geben zu können. Der Steintroll zog geräuschvoll die Nase hoch und schob die breite Unterlippe knirschend vor. „Niiiicht guuuut?“, grollte er enttäuscht. Laurin stupste Willa mit dem Ellenbogen in die Seite. „Aua!“ Willa schoss Laurin einen giftigen Blick zu. Laurin war das gerade ziemlich egal. Durch seine zusammengebissenen Zähnen zischte er: „Sag etwas! Sonst sind wie gleich die nächsten, aus denen er mit seinen Pranken einen Ton herausbekommen will!“ Willa schnaubte, trat aber einen Schritt nach vorne. Doch gerade, als sie den Mund aufmachte, kehrte ihnen der Steintroll den Rücken zu und stapfte zurück in den tiefen Wald.

Willa wollte ihm hinterherrennen. Da hielt sie nach nur ein paar hastig gesetzten Schritten einer der Winde am Mantel fest. Sie ruderte nach Gleichgewicht suchend mit den Armen und stemmte die Füße in die matschige Erde, um nicht auf die Nase zu fallen. Nun war es der braune Matsch, der sie mit einem “Tschläärp” festhielt. Aber Willa gab nicht auf. Sie holte tief Luft und schrie so laut sie konnte: „Halt! Warte, lieber Steintroll!“

Steintrolle mögen zwar sehr tollpatschig und sehr laut sein, aber sie können sehr gut hören. Denn jedes noch so kleine Geräusch hallt dröhnend in ihrem steinernen Gehörgang wieder. Der Steintroll blieb also stehen. Er drehte sich langsam um. Seinen Quaderkopf schief gelegt, nahm er sich Zeit, um abzuwägen, ob er Willa nun helfen wollte oder nicht. Ein Ruck ging durch seinen felsenharten Körper. Kleine Steinchen rieselten auf Willa hinab. Basaltus war wohl zu einer Entscheidung gekommen. Er streckte seine Pranke nach Willa aus. Das Wichtelmädchen bibberte in dem kalten Wasserloch. Ein bisschen vor Kälte, ein bisschen mehr, weil sie befürchtete, nun doch noch zwischen zwei Steinbrockenfingern zerquetscht zu werden. Diese griffen jedoch so vorsichtig, wie es eben einem Steintroll möglich war, nach ihrem Umhang.

 Mit einem schmurgeligen Schmatzen zog er das Wichtelmädchen aus der Matschepfütze und ließ sie vor seinem Gesicht baumeln. „Waaaarten?!“, wiederholte er ihre Bitte mit seiner tiefen Stimme. Willa strich sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht, um ihm ihr freundlichstes Lächeln zu zeigen. „Ja, warten! Ich danke dir, dass du es getan hast! Uuund natürlich auch dafür, dass du mich aus der Matschepfütze gerettet hast!“ Der Troll brummelte vor sich hin. Willa beeilte sich etwas Wichtiges zu sagen, bevor er sie wieder absetzte und weiter seines Weges ging. „Wir brauchen dich! Dich und deine Trommel, um den Hüter des Waldes aufzuwecken!“ Der Steintroll sah sie einen Moment konzentriert an. Dann grollte er:  „Haaalvooor!“ Willas Augen wurden groß. „Du kennst seinen Namen? Du weißt, wer er ist?“ Der Steintroll nickte. „Meeeiinnne Steeeinne siiind schooon vieeele huuuundert Jahre alt. Iiiich keeenne Haaalvooor! Iiiichh heeeelfe!“

 

Du hörst miesgelauntes Rumpeln? Dann kommen sie aus dem Dunkeln!

„Los! Klettert hinauf! Basaltus wird uns ein Stück des Weges tragen. So kommen wir schneller zur Grenze des Schlummerwaldes! Habt keine Angst! Hier oben sitzt es sich sicherer als es aussieht!“, rief Willa ihrer Familie zu und klopfte zuversichtlich neben sich auf die harte Steinschulter. Kaum hatte Willa dies aber ausgesprochen, ließ sie ein heftiges Beben gefährlich nach vorne schwanken. „Woahh! Nein! Hilfe!“ Schnell griff sie nach dem großen Steintrollohr und presste sich an die rauen Kanten. Der Boden kam näher. Langsam. Gemächlich. Nicht im Sturze. Basaltus war in die Knie gegangen. Willas fester Griff lockerte sich etwas. Erleichtert stieß sie den angehaltenen Atem aus. Schließlich vertrieb die vertraute Wärme in den lieben Gesichtern von Mama, Papa und Laurin auch noch die letzten kalten Stiche des Schreckens aus ihren zittrigen Händen.

„Dass Sie uns helfen und auch noch tragen, ist wirklich sehr nett! Wir werden uns bemühen, Ihnen nicht zu viele Unannehmlichkeiten zu machen!“, versicherte Mama dem Steintroll, als er sie, zusammen mit Papa und Laurin mit seiner Pranke vorsichtig hinauf zu Willa hob. Die rutschte ein Stück zur Seite, denn auf nur diese eine Schulter bot genug Platz für alle Borkels zusammen.

Die Herzlein der Wichtel hüpften mit jedem stampfigen Schritt des Trolls ein Stück nach oben. Schon nach kurzer Zeit geschah dies nicht länger vor Aufregung, sondern vor Freude, weil sie ihrem Ziel nun schneller näher kamen. Papa gab Willa ihre Geige zurück, und das Wichtelmädchen begann sogleich darauf zu spielen. Die Feen steckten munter ihre Kringellockenköpfe aus den Falten des Umhangs und stimmten mit ein. Auch die Wichtel gaben ihr Bestes, denn es gab noch einige Waldbewohner, die sie mit ihrer Musik erreichen wollten. Schließlich brauchten sie so viele Stimmen wie möglich, um den tief schlafenden Hüter des Waldes aufwecken zu können.

Die herbstgoldenen Noten erhellten das Grau vor ihnen und trug ihr Lied bis in die letzten Winkel des Waldes weiter. Zwischen den Trollfüßen hatte es wild zu wuseln begonnen. Denn die Erdwichte, auch Brombockel genannt, hatten es bei diesen mitreißenden Klängen nicht länger in ihren Erdlöchern ausgehalten. Ihre Bärte aus feinem Wurzelgeflecht – ja, auch die Mädchen und Brombockeldamen trugen mit Stolz ihren Bart – wackelten bei ihren wilden Tänzen hin und her. Pilzlinge ließen ihre rot-braunen, gepunkteten und weißen Kappen drehen, während sie sich mit den ganz in weichem Grün gekleideten Moosweiblein im Kreise hopsten. Vor den Sturmgeistern ließ sich niemand mehr ärgern. Ganz im Gegenteil: mit ihrem Brausen und Sausen, Rütteln und Schütteln trugen sie noch zur guten Laune bei.

Dann war es soweit. Sie hatten die Grenze zum Schlummerwald erreicht. Vor ihnen erstreckte sich eine Reihe dunkler, dich beieinander stehender Tannen wie eine undurchdringliche Mauer. Willa ließ die Geige sinken. Ihr war, als würden die zwischen den Stämmen lauernden Schatten sich nach ihnen ausstrecken. Die Tanzenden fest umklammern, und zu sich in die Stille ziehen wollen. Eine Stille, die keinen Ton ihres Liedes zu dem Hüter des Waldes durchdringen lassen würde. Während diese finsteren Gedanken drohten, ihre Hoffnung zu ersticken, schüttelte das Wichtelmädchen fest und bestimmt den Kopf. Laut rief sie den mutigen Waldbewohnern zu: „Wir lassen uns keine Angst machen! Wir bringen Licht und Fröhlichkeit in das Dunkel! Singt und tanzt! Dann kann uns die Finsternis nichts anhaben!“ Willa setzte die Geige wieder ans Kinn und ließ den Bogen über die schwingenden Seiten springen. Das Trommeln des Riesen verband sich mit seinem entschlossenen Voranstampfen. Laurin kletterte an dem steinernen Bauch hinunter und nahm zu Füßen des Kolosses ein paar Pilzlinge und Moosweiblein auf seine Arme. Dabei hatten sie alle das Lied von Halvor auf den Lippen:

Tief im Walde, da ist er Zuhaus’.
Halvor ist Gebieter über alle Wesen: vom Falken bis zur Maus.
Ihn zu treffen ist eine große Ehr’.
Kommet all mit Blumenkranz, Musik und Tanz daher!
Habt ihr sein Wohlwollen einmal geweckt,
bleibt das Gute nicht länger vor euch versteckt.

„Es ist zu laut!“, „Sie stören unsere Ruhe!“, „Sie wollen uns ärgern!“, „Ärgert sie zurück!“, „Sie sollen wieder gehen!“ Je tiefer sie in den Schlummerwald kamen, desto schärfer schossen die flüsternden Stimmen aus den dunkelsten Schatten auf sie zu. Willa spielte tapfer weiter, doch die aufgestellten Härchen in ihrem Nacken wollten sich einfach nicht wieder legen. Schauer liefen ihr über den Rücken. „Sag mir, dass du das auch hörst!“ Laurins bebende Stimme drang durch den schwächer werdenden Gesang der anderen zu ihr durch. Willa suchte nach einer Erklärung, die ihren Bruder beruhigen würde. Doch es gab keine. Sie waren umzingelt. Von Wesen, die sie lieber jetzt als gleich aus dem Schlummerwald hinaus haben wollten. Papa hatte die Stimmen auch gehört. Er warnte: „Das sind die Mumumratze! Ganz bestimmt! Sie mögen es gar nicht, wenn man sie aus ihrem Schlaf weckt! Und sie schlafen für ihr Leben gerne! Ob Morgendösen oder Tieftraumschlaf! Passt bloß auf ihre pelzigen Pranken auf! Sie dürfen euch nicht berühren! Sonst…“ Seine Stimme brach ab, als die ersten gelben Augen im Dunkeln aufleuchteten.

Aus den schwarzen Schatten lösten sich fellige Umrisse. Die Feen quietschten auf und flogen sofort wieder unter Willas Umhang. Basaltus blieb augenblicklich stehen und kehrte mit einer fließenden Bewegung die kleinen Wesen zu seinen Füßen auf, sodass sie sicher auf seinen Armen saßen. Der Steintroll brüllte so laut, dass die Bäume wackelten. Die Mumumratze ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie traten nun vollends aus ihren Verstecken heraus. Die gelben Augen mit einem schiefen Grinsen zwischen nachtschwarzem Fell gefährlich auf die zitternden Waldbewohner gerichtet. Willa schlug das Herz bis zum Halse. Doch sie nahm all ihren Mut zusammen und rief ihnen entgegen: „Bitte lasst uns zu dem Hüter des Waldes durch! Und wir werden eure Ruhe nicht länger stören!“ Die Mumumratze antworteten ihr nicht. In der schrecklich angespannten Stille war nur das Heulen der wilden Winde und das Schniefen der Wiesenfeen zu hören. Hatten sie Willa überhaupt verstanden? Sie holte noch einmal tief Luft, um ihre Bitte zu wiederholen, als plötzlich ein Mumumratz bellend auflachte. „Der Hüter des Waldes schläft tief und fest! Nichts und niemand kann ihn aufwecken!“ Die pelzige Pranke eines zweiten Mumumratzes schob seinen Gefährten grob zurück. Er grölte: „Und das soll auch so bleiben! Wir wollen unsere Ruhe! Im Wald soll es weiter still und dunkel bleiben! Darum geht jetzt und kommt nie wieder zurück!“ Verzweiflung und Wut ließen Willa nun selbst brüllen: „Nein! Ihr könnt das nicht einfach so bestimmen!“ Die gelben Augen der Mumumratze leuchtete zusammen mit ihrem Lachen hell auf. „Ohhh, doch! Das können und werden wir!“ Dann rannten sie los. Die pelzigen Pranken nach den Gefährten ausgestreckt.

 

Wesen der Nacht, gebt auf das Licht des Waldes Acht!

Basaltus stellte sich ihnen entschlossen entgegen. Die Waldwesen waren aus Angst bis zu seinen Schultern und sogar weiter auf den Quaderkopf geklettert. Der Steintroll versuchte, sie dort sicher zu halten und gleichzeitig mit kräftigen Hieben und Stampfen die Mumumratze abzuwehren. Doch es waren zu viele. Die pelzigen Angreifer hingen sich an die Säulenbeine des Trolls und versuchten,   ihn zu Fall zu bringen. Einige Stellen des grauen Steins waren bereits von schwarzem Fell bewachsen.

Da wurde es mit einem Mal strahlend hell. Eine tiefe Stimme dröhnte laut wie Donnergrollen: „Lasst sofort von dem Steintroll und den Waldbewohnern ab, ihr gemeinen Mumumratze! Sonst werdet ihr mich kennenlernen! Wirklich kennenlernen!“ Die Mumumratze heulten auf. „Zu hell!“, „Viel zu hell!“, „Wir machen ja schon, was du willst! Nur mach es wieder dunkler!“ Das Licht wurde etwas schwächer. Die Grollstimme nicht: „Lauft zurück in eure Schatten!“ Die Mumumratze ließen sich fallen. Sie kullerten und stolperten übereinander, als sie sich beeilten in ihre Erdlöcher zu kommen.

Willa blinzelte. Ihr Atem stockte. Da stand er, im grünen Schein: Halvor. Der Hüter des Waldes. Sie erkannte sein Gesicht. Doch nun waren die tiefen Rillen der Trauer daraus verschwunden. Als er sie anschaute, lag in seinem Blick eine tiefe Güte und Freundlichkeit. Auf seinem hoch erhobenem Kopf trug er nicht länger die Äste des Ahorns als Krone. Wild wuchsen daraus die Ranken und Blätter des Waldes: Buche, Ahorn, Kastanie, Esche – und sie alle trugen die bunten Farben des Herbstes!

Willa fand vor Staunen kaum ihre Stimme. Sie wisperte: „Aber wir haben doch noch gar nicht für dich gesungen und getanzt…“ Halvor öffnete seine Hand. Darin lag Willas Schatz – das goldene Herbstblatt. Die feinen Fältchen um seine Augen kräuselten sich, als Halvor das Wichtelmädchen milde anlächelte. „Und ob du das hast! Das Blatt hat dein…“, er blickte zu den Waldbewohnern auf Basaltus’ Schultern hinauf, „…euer Lied zu mir getragen. Und wie ihr seht, hat es mich ohne Zweifel aus meinem tiefen Schlaf geweckt.“ Der große Hüter des Waldes senkte ehrfürchtig seinen Kopf. „Ihr habt damit die Freude zurück in mein Herz gebracht. Dafür werde ich euch ewig dankbar sein!“

„Dann kannst du ja gleich die Farben zurückbringen!“ Erschrocken über das, was gerade aus ihm herausgeplatzt war, hielt sich Laurin die Hand vor den Mund. Halvor lachte dröhnend auf. „Das werde ich selbstverständlich tun, junger Wichtel!“ Halvor streckte die Hand mit dem goldenen Blatt aus und flüsterte melodische Worte. Willa verstand sie nicht, aber sie klangen wunderschön. Das Blatt schwebte nun zwischen ihnen und dem Hüter des Waldes. Dann wirbelte es ganz schnell im Kreis. Bunte Farbkleckse flogen in alle Richtungen, trafen Baum, Strauch und Grashalm. Aus dem Grau wurde ein Kürbisgelb, Kastanienbraun und Fliegenpilzrot. Auch Willa und ihre Freunde bekamen ein paar Spritzer ab. Das Wichtelmädchen strich über eine ihrer Haarsträhnen und gluckste erfreut. „Meine Haare sind nun noch ein bisschen fuchsroter!“

Halvor nickte zufrieden. Dann schob sich jedoch ein grauer Schatten auf sein Gesicht. „Ihr werdet das Lied doch nicht wieder vergessen, oder?“, fragte er bei Willa besorgt nach. Das Wichtelmädchen schüttelte bestimmt ihren wilden Lockenkopf. „Ganz bestimmt nicht. Es wird noch lange klingen. Und wenn ich mal eine Großmutter bin, werde ich mit meinen Enkeln dazu tanzen!“

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