Lebensretterin im Urlaub

Mario Gastal

Diesen Sommer verreist die kleine Jasina ganz, ganz weit weg – nach Costa Rica. An diesem fernen Ort wird sie zur ganz besonderen Lebensretterin. 

Nach Alter: Ab 6 Jahre

Nach Lesedauer: Ca. 15 – 20 Minuten

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Heillose Hektik herrschte an diesem Freitagmorgen, als die Familie Jaseweis noch die letzten Vorbereitungen für ihre lange Reise traf. Die zehnjährige Jasina beobachtete ihre Mama, wie sie mit einem durchsichtigen Kulturbeutel, in dem sich Zahnbürsten, Zahnpasta, eine Haarbürste und vieles mehr befand, durch das Wohnzimmer eilte, und ihren Papa, der einen der beiden großen Koffer in den Flur hievte.

Immer wieder stellte ihr Papa plötzliche Fragen, zum Beispiel »Hast du an die Sonnencreme gedacht?«, worauf ihre Mama sagte: »Natürlich! Wir wollen ja nicht, dass du wieder so rot wirst wie ein Krebs!« Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass er beim letzten Urlaub nicht so rot war wie ein Krebs, sondern wie ein Pavian an einer ganz bestimmen Körperstelle.

Für Jasina war es besonders aufregend, denn es war ihr erster Flug. Sonst fuhren sie immer mit dem Bus oder mit der Bahn, doch diesmal war der Urlaubsort soo weit weg, dass sie fliegen mussten. Ihre Eltern wollten es nämlich so gut es geht vermeiden zu fliegen, denn sie sagten, das sei ganz schlecht für die Umwelt.

Nach einem ewig langen Flug landete die Familie Jaseweis in Costa Rica, einem fernen Land auf der anderen Seite des Ozeans. Schon mit dem ersten Schritt aus dem Flugzeug spürte Jasina die warme Tropenluft auf der Haut, und die Sonne strahlte hell, heiß und herzlich auf sie herunter. Bäume sah sie erstmal keine, dafür aber umso mehr Palmen, das erste Erkennungsmerkmal dieser exotischen Gegend. Und auch die Pflanzen sahen alle so fremd aus, manche besaßen Blätter, die fast so groß waren wie Jasina selbst.

Die Familie Jaseweis bewohnte eine kleine Hütte aus Holz und einem Strohdach. Sie lag mitten im Dschungel, und nur ein einziger schmaler Pfad führte dorthin. Das Meer war so nah, dass man sogar noch das Wellenrauschen hören konnte. Dazwischen erklang durchgängiges Vogelgezwitscher oder einzelne, laute Vogelrufe, die von unterschiedlichsten Arten stammen mussten. Was für eine Vielfalt! Jasina sah einen quietschbunten Papagei und einen schwarzen Tukan, dessen riesiger Schnabel jedoch unfassbar farbenreich war.

Am ersten Abend suchte sich die Familie Jaseweis ein Restaurant im Dorf aus. Sie fanden eines, das Jasina ganz bewundernswert fand, denn die Wände waren aus zahllosen Bambusröhrchen gebaut worden. Die Tische waren dicke Baumstümpfe, und kleinere Baumstümpfe waren die Stühle. Man aß von Palmblatttellern und trank aus ganz speziellen Strohhalmen.

»Wenn du ausgetrunken hast, kannst du den Strohhalm essen«, sagte ihre Mama, was Jasina ganz großartig fand.

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Am Nachbartisch saß eine Familie mit einem Mädchen in Jasinas Alter. Sie wäre Jasina vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn der Papa des kleinen Mädchens nicht plötzlich mit lauterer Stimme »Mach keinen Heckmeck, sondern deinen Dreck weg!« gesagt hätte. Jasina sah, dass das Mädchen mindestens genauso viel Essen neben dem Teller wie auf dem Teller hatte, und auch ihr Mund war ganz verschmiert. Sie wirkte sehr hibbelig.

»Kann ich dann wieder zurück?«, fragte sie, während sie den Tisch säuberte.

»Du kannst doch nicht die ganze Nacht dort verbringen«, sagte ihr Papa entschieden.
Wohin wollte sie bloß?

»Ihr müsst ja nicht mitkommen«, sagte das Mädchen flehend.

Jasina blickte hinaus in die Abenddämmerung – niemals würde sie freiwillig allein irgendwo hingehen. Der Dschungel, der fremde Ort – so schön das alles auch war, es hatte nachts auch etwas Unheimliches.

»Du bleibst schön bei uns!«

»Darf ich aber schon mal vor die Tür gehen? Ich kann nicht mehr sitzen …« Das kleine Mädchen wollte nicht lockerlassen.

»Ja, in Ordnung«, sagte ihr Papa, der sich geschlagen gab, »aber bleib unmittelbar vor dem Restaurant, ja? Ich warne dich, hörst du?«

»Ja, ja«, sagte das kleine Mädchen, stand von ihrem Baumstumpf auf und wetzte hinaus.

Jasinas Neugierde war geweckt. Nun war Jasina diejenige, die etwas hibbelig auf ihrem Baumstumpf saß.
»Mama? Papa?«, sprach sie ihre Eltern an, die sich gerade über die schönsten Wanderwege unterhielten. »Ich kann nicht mehr sitzen – darf ich einen Moment rausgehen?«

Ihre Eltern schienen kurz etwas verwundert, immerhin saßen sie erst seit einer halben Stunde, doch sie hatten nichts dagegen.

Draußen fand Jasina das kleine Mädchen sofort. Es stand auf der Veranda und lehnte an einem Bambusrohr, das wie eine schmale Säule emporragte.

»Hey du«, sprach Jasina sie an.

Das kleine Mädchen blickte Jasina überrascht an, vermutlich weil sie nicht gedacht hätte, hier jemanden Deutsch sprechen zu hören. Vielleicht war sie aber auch schüchtern, jedenfalls antwortete sie nicht.
»Ich bin Jasina«, stellte sie sich lächelnd vor, »und wie heißt du?«

»Ich heiße Aurora, aber alle nennen mich Auri.«

»Aurora klingt richtig schön, ich mag den Namen sehr!«

»Das heißt ›Morgenröte‹ – also steht der Name für den Beginn eines Tages oder den Anfang von was Neuem!«

»Auch das klingt richtig schön! Machst du das oft? Also … mit etwas Neuem anfangen? Wann war das letzte Mal?«, fragte Jasina.

»Erst heute«, antwortete Auri vielsagend.

Jasina überlegte kurz, dann fragte sie: »Sag mal, hat das mit dem Ort zu tun, wo du heute noch hinwillst?«
Auri nickte.

»Und was machst du da?«, fragte Jasina.

»Dort rette ich Leben …«

Jasina machte große Augen und rief: »Du rettest dort ein Leben?«

»Nein, nicht eins, sondern hundert«, korrigierte Auri sanft und gelassen.

»Wie rettet man denn hundert Leben?«

Jasina platzte vor Neugierde. Auri lächelte vergnügt.

»Soll ich dir den Ort morgen zeigen?«

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Am nächsten Morgen hatte Jasina nur einen einzigen Gedanken: Was war das für ein Ort, den Auri ihr zeigen wollte? Wo konnte man hundert Leben retten? Und vor allem wie?

Kaum waren Jasinas Eltern aus ihrem Schlafzimmer gekommen, stürmte sie den beiden auch schon entgegen.

»Mama! Papa! Ich habe gestern ein nettes Mädchen kennengelernt, sie heißt Auri, und ich wollte fragen, ob ich sie nach dem Frühstück treffen kann.«

»Guten Morgen erstmal«, sagte Jasinas Mama, die zwar ausgeschlafen, aber trotzdem noch etwas träge war. »Dein Papa und ich haben uns gestern schon einen Wanderweg für heute überlegt.«

»Kann ich nicht was mit Auri machen?«, bat Jasina lang und gedehnt.

»Was wollt ihr denn machen?«, fragte ihre Mama.

»Leben retten.«

»Ihr wollt Leben retten?«

Ihre Mama sah verwundert aus. Vermutlich dachte sie gerade an den letzten Nordseeurlaub, wo Jasina die Bewohner ihrer Sandburg vor der kommenden Flut retten wollte.

»Ja! Sie hat mir noch nichts Genaueres gesagt, aber es sollen hundert Leben sein oder so!«

Nun schaltete sich ihr Papa ein: »Kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube eher, die kleine Auri hat eine sehr blühende Fantasie. Und möchtest du die Wanderung denn gar nicht mitmachen? Denk nur an die schöne Natur! Du wärst erstaunt, welche Tiere wir zu Gesicht bekommen werden.«

»Doch, schon! Aber … ist Leben retten nicht wichtiger?«

Ihre Eltern tauschten stolze Blicke.

»Unsere kleine Jasina Naseweis«, sagte ihr Papa leise und zärtlich, dann fuhr er fort, »natürlich ist es das – das ist sogar viel wichtiger! Na gut, triff dich mit Auri und berichte uns später von euren Heldentaten. Du kannst los, sobald du dein Frühstück aufgegessen hast.«

Das war ein Wort! Sofort verschlang Jasina ihr Frühstück wie ein Krokodil seine Beute, dann hastete sie zum Strand, wo Auri im Sand spielte. Sie hatte allerhand Spielzeug, das überall um sie herum verstreut lag, und ihre Eltern lagen auf einer großen Decke neben ihr.

»Auri!«, rief Jasina.

»Jasina! Ich habe nur auf dich gewartet – wir können sofort los.«

Plötzlich räusperte sich ihr Papa auffallend laut, während er das Chaos überblickte.

»Aurora, räumst du bitte noch dein Spielzeug zusammen?«

»Ich möchte aber sofort los«, meinte Auri ungeduldig.

»Mach keinen Heckmeck, sondern deinen Dreck weg!«, sagte Auris Papa nun eine Spur ernster.

Rasch fing Auri an, alles zusammenzuräumen, und Jasina half ihr dabei. Nachdem die letzte Schippe vom Sand entfernt worden war, spazierten die beiden los zu dem besonderen Ort. Endlich war es so weit! Sie liefen eine ganze Weile am Strand entlang, bis sie einen entlegenen Abschnitt des Strandes erreichten, der menschenleer war. Obwohl niemand zu sehen war, stand ganz in der Nähe des Meeres eine umzäunte Hütte.

»Dort müssen wir hin«, verkündete Auri und lief noch etwas schneller.

Neben dieser Hütte saß eine junge Frau. Es gab etwas, das sie nicht aus den Augen ließ. Der Zaun war nicht nur um die Hütte, sondern auch um eine Ansammlung von runden Gittern gebaut worden, die wie umgestülpte Papierkörbe aussahen. Warum sollte man die bewachen?

»Hey Auri! Ich sehe, du hast eine Freundin mitgebracht?«, sprach die junge Frau die beiden Neuankömmlinge an.

»Ja, das ist Jasina!«

»Schön dich kennenzulernen, Jasina. Ich bin Zoey«, sagte die junge Frau freundlich.

Jasina lächelte, ließ dann ihren Blick über all die umgestülpten Papierkörbe schweifen und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte.

»Und … wann retten wir Leben?«, fragte Jasina unsicher.

»Wir tun es gerade«, meinte Zoey.

Jasina war so verblüfft, dass sie sprachlos war. Sie machte ganz große Augen, was Zoey bemerkte.

»Wir schützen die Eier von Schildkröten«, erklärte sie. »Die liegen unter dem Sand, und zwar überall dort, wo wir die Gitterbehälter drübergelegt haben. Aber wir müssen trotzdem stets aufpassen, dass keine Fressfeinde kommen.«

Nicht zu fassen! Unter den umgestülpten Papierkörben befanden sich die Nester von Schildkröten. Mehr als hundert Eier, also mehr als hundert zukünftige Leben.

»Und was passiert, wenn ein Nest schlüpft?«, fragte Jasina.

»Dann beschützen wir die Baby-Schildkröten auf ihrem beschwerlichen Weg zum Wasser, aber wir nehmen sie nicht in die Hand und tragen sie nicht bis zum Ufer. Es ist nämlich so, dass sich die Kleinen den Strand genau einprägen, weil sie irgendwann hierher zurückkehren wollen, um selbst Eier zu legen.«

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Jasina und Auri hörten aufmerksam zu, wie Zoey allerhand Wissenswertes zu den Schildkröten erzählte. Sie vergaßen vollkommen die Zeit, und irgendwann tauchte der Sonnenuntergang den Sand und das Meer in rötliches Licht. Der Tag endete; doch manchmal, wenn etwas endet, fängt etwas anderes an. Dort drüben, an einem der Nester, bewegte sich was …

»Auri! Zoey! Schaut mal da!«

Der Sand hinter einem der Gitter bewegte sich. Er türmte sich auf zu einem Hügel, der an der Spitze kleine Risse bekam und aufbrach … ein erstes grünliches Köpfchen erschien, gefolgt von zwei flossenartigen Ärmchen, die den Sand beiseite schaufelten. Schwerfällig, aber auch mindestens
genauso tapfer, kämpfte sich das frisch geschlüpfte Tierchen frei, wobei es von hinten angeschoben wurde, wo sich viele weitere Babys danach sehnten, in die offene Welt zu kommen.

Jasina, Auri und Zoey eilten herbei, entfernten das Gitter und beobachteten, wie inzwischen drei Baby-Schildkröten vollständig aus dem Loch gekrochen waren. Jasina bewunderte die gewölbten Panzer mit Wabenmuster. Und sie bewunderte, dass alle Tiere sofort spürten, wo das Meer war – alle Tiere krochen hintereinander in die richtige Richtung, es entstand fast so etwas wie eine Schildkröten-Polonaise.

Jasina legte sich bäuchlings in den Sand, um diesen klitzekleinen Geschöpfen, die so süß, liebenswert und herzerwärmend waren, so nah wie möglich zu sein. Als eine Baby-Schildkröte, deren Erkundungsdrang besonders groß war, mit ihren Äuglein hinauf in Jasinas Gesicht blickte, da legte Jasina so zärtlich wie möglich die Lippen auf das Köpfchen des kleinen Wesens und küsste es, und so wie es das Meer spürte, so spürte es bestimmt auch die Liebe, die Jasina ihm schenkte.
Es dauerte ein Weilchen, doch irgendwann berührte die erste Welle, die nach dem Brechen über den Sand floss, die vordersten Schildkröten. Wasser und Schaum umspülte die Tierchen und zog sie in den Ozean, in dessen unendlichen Weiten sie gleich schwimmen würden.

Als das letzte Tier im Wasser verschwunden war, erinnerten nur noch die Spuren im Sand an das Wunder, das Jasina, Auri und Zoey erlebt hatten.

»Schade, dass wir gar keine Schildkröten mehr retten können, wenn der Urlaub vorbei ist«, sagte Jasina wehmütig.

»Das stimmt nicht«, sagte Zoey.

Jasina und Auri blickten sie überrascht an – sie waren aufmerksamer denn je.

»Du kannst immer Schildkröten retten. Jeden Tag. Es kommt ganz darauf an, wie du dich im Alltag verhältst. Du rettest sie, indem du keinen Fisch isst, weil Schildkröten oft aus Versehen mitgefangen werden. Oder du solltest so gut es geht auf Plastik verzichten, weil der oft im Meer landet – Schildkröten halten den Müll für Nahrung und können sterben, wenn sie ihn essen.«

Jasina machte das traurig und glücklich zugleich, doch vor allem schöpfte sie Mut daraus, dass sie auch aus der Ferne was bewirken konnte; und sie nahm sich fest vor, auch nach dem Urlaub so gut es geht für die Tiere zu sorgen und sich für ihr Wohl einzusetzen, um das Wunder des Lebens zu sichern.

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Rezensionen zu dieser Geschichte

Leserbewertungen

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5,0 von 5 Sternen (basierend auf 2 Bewertungen)
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Wunderschön vermittelnde Geschichte

29. Oktober 2022

Eine Geschichte die mich und meine Kinder sehr berührt hat. Der Autor stimmt die Leser nachdenklich über unsere alltägliche Handlungen und treibt uns dazu an, selber aktiv zu werden. Denn wenn die kleine Jasina Leben retten kann, können wir es auch oder? Ganz viel Herz steckt in der Geschichte und wir werden sie nicht so schnell wieder vergessen!

Josie
Verified

Total interessant für kleine Entdecker

25. Oktober 2022

Hab sie gerade gelesen, finde sie sehr schön und verständlich geschrieben für Kinder. Ich mag sehr gerne Schildkröten,sind einfach was besonderes. Eine Kurzgeschichte mit Überlegung,was man selbst zur Umwelt beitragen kann.

Daniela
Verified

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