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Mit ernster Miene radelte Sam durch die verlassenen Straßen ihrer kleinen Stadt. Sie war sich sicher, dass die entscheidenden Hinweise hier irgendwo sein mussten. Ihre Klassenkameraden lachten sie dafür aus, dass sie überall Schatten und Zeichen sah. Ihr Vater hingegen nannte es Instinkt. Er war Kommissar und ermittelte wieder in einem Mordfall.
In einem nahe gelegenen Waldstück war am Vortag eine Leiche gefunden worden und im ersten Moment waren die Ermittler von einem natürlichen Tod ausgegangen. Das Opfer war schon älter gewesen, mit diversen Vorerkrankungen. Ein Mann aus der Stadt, der oft im Wald spazieren ging, weil es ihm guttat. Ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, irgendetwas, weswegen er es nicht mehr zurückgeschafft hatte. Zurück zum kleinen Parkplatz, auf dem sein Auto geparkt war. Der Autoschlüssel lag ein Stück von ihm entfernt am Boden.
Die Ergebnisse der Obduktion waren heute gekommen. Tatsächlich ein Infarkt, aber der alleine hatte den Mann nicht getötet. Es musste noch jemand nachgeholfen haben. Spuren von Gewalt gab es nicht. Dafür gab es Spuren von Plastik. Ein kleines Stück schwarzer Kunststoff, wie von einem Müllsack. Damit lag der Verdacht nahe, dass der Mann nicht im Wald gestorben war, sondern man ihn dort abgelegt hatte. Er sollte gefunden werden und es sollte aussehen, als wäre er im Wald gestorben. Tat es aber nicht. Es war Spätherbst und der Täter hatte alles dafür getan, jegliche Spuren mit den bunten Blättern zu verdecken. Wäre der alte Mann jedoch im Wald gestorben, hätte man dessen Fußabdrücke sehen müssen. Solche, die torkelnd zu den Bäumen führen, zwischen denen er dann zusammengebrochen war. Aber es war alles feinsäuberlich verwischt worden. Spuren wurden erst auf dem Waldweg wieder gefunden. Fußabdrücke der vielen Spaziergänger, Reifenspuren von Fahrrädern, Rollern, Quads aber auch von Pferden und Hunden. Der Boden war an dieser Stelle besonders sandig.
Sams Vater teilte diese Informationen, denn er schätzte den Spürsinn seiner Tochter und wollte ihren Entschluss, selbst einmal eine hervorragende Ermittlerin zu werden, mit allen Mitteln unterstützen. Manchmal auch zum Leidwesen ihrer Mutter, die selbst nicht besonders begeistert war, wenn am Abendbrottisch über Leichen und Obduktionen diskutiert wurde.
In diesem Mordfall war der Täter kein gewiefter Psychopath, der alles bis ins Kleinste geplant hatte. Er hatte Fehler gemacht und gleich mehrere. Deshalb hatte sich auch Sam an seine Fersen geheftet. Natürlich nicht offiziell. Sie war erst fünfzehn Jahre alt. Ihre grünen Augen funkelten vor Entschlossenheit, als sie die Straßen absuchte. Ihr Blick fiel auf einen weißen Lieferwagen, der hinter den Toren des Schrottplatzes in der kleinen Halle stand. Sam hielt abrupt an. Sie strich sich die blonde Strähne hinters Ohr, die sich beim Radeln aus dem Zopf gelöst hatte.
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Eine Dame, die direkt neben dem kleinen Parkplatz am Waldeingang wohnte, konnte alle Autos aufzählen, die dort gestanden hatten. Verächtlich schnaubte Sam. Sie mochte diese Senioren nicht, die ständig am Fenster hingen und die Nachbarschaft ausspionierten, weil ihr Leben ansonsten anscheinend keine Spannung mehr hergab. In diesem Fall war es jedoch hilfreich gewesen. Die alte Dame hatte das Auto des Opfers gesehen, zwischenzeitlich auch einen weißen Lieferwagen und später einen roten klapprigen Opel. Der Lieferwagen hatte kein Nummernschild gehabt, was ihr sonderbar vorgekommen war. Laut ihrer Angaben hatte sie immer wieder mal aus dem Fenster gesehen, ob der Besitzer zurückkäme und wer es wohl sei. Aber als sie nach einer längeren Sitzung auf der Toilette wieder zum Fenster kam, war der Lieferwagen verschwunden. Sam schüttelte es bei der Erinnerung, wie ihr Vater das berichtet hatte. Manche Informationen brauchte man nun wirklich nicht. Später hatte die alte Frau noch einen roten Opel gesehen, der aber sehr schnell wieder weggefahren wäre. Für einen Spaziergang eigentlich zu kurz. Der Opel hatte ein Kennzeichen, aber sie hatte es nicht ganz entziffern können. Dennoch war man den Hinweisen nachgegangen. Sie hatten zu einem Mann geführt, der bereits über 90 Jahre alt war und so tattrig, dass er als Täter sofort ausschied. Er konnte sich nicht daran erinnern, an diesem Tag im Wald gewesen zu sein, schließe es selbst aber nicht aus. Sein Gedächtnis sei nicht mehr das Beste und er werfe vieles durcheinander. Ab und an würde sein Sohn den Wagen abholen und nachsehen, ob alles damit in Ordnung sei und um den Wagen einfach ein bisschen zu bewegen. Wegen der Batterie und so. Den Schlüssel hatte er in dem Moment auch nicht gefunden und die Spurensicherung musste den Wagen knacken.
Sam fragte sich allmählich, ob ihre Stadt hauptsächlich aus alten Menschen bestand. Wenn man die Leiche in den Wald transportiert hatte, dann musste es mit einem Auto gewesen sein. Niemand tat so was mit einem Fahrrad. Der Opel schied als Tatfahrzeug aus. Die Spurensicherung hatte sich darum schon gekümmert. Auch am Auto des Opfers hatte man nichts Auffälliges entdeckt. Blieb also nur der weiße Lieferwagen ohne Kennzeichen. Genau so einer, wie ihn Sam gerade auf dem Schrottplatz entdeckt hatte. Sie näherte sich dem Tor und betrachtete den Wagen so genau, wie es von dieser Position möglich war. Bei der Polizei wäre das Verhalten auffällig gewesen, bei einer Jugendlichen eher weniger. Dennoch kniete sie sich auf den Boden und tat so, als würde sie sich die Schuhe binden.
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Dem Lieferwagen war ein Reifen abgenommen worden, der aber direkt daneben lag. Sollte der Wagen so wirken, als wäre er lange nicht benutzt worden? War dieser Reifen beschädigt worden bei der Fahrt zum Wald? Sam würde näher rankommen müssen, wenn sie diese Fragen klären wollte. Sie fuhr zur Rückseite des Schrottplatzes und stellte dort am Bretterzaun ihr Fahrrad ab. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie eine Stelle gefunden hatte, an der sie unbemerkt auf das Gelände kommen konnte. Sicherheit schrieb der Besitzer offenbar nicht besonders groß. Sam schlich sich zur Halle und lauschte. Nichts war zu hören und so ging sie vorsichtig um den weißen Wagen herum. Am Auto selbst konnte sie nichts Besonderes entdecken, aber was sie auf dem Boden sah, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Sandige Fußspuren! Sie führten vom Lieferwagen in eine Ecke, in der etwas unter einer dunkelgrünen Plane verborgen war. Sam huschte hinüber und hob vorsichtig die Plane an. Darunter war ein Quad mit sandigen Reifen verborgen. In ihren Gedanken suchte sie fieberhaft nach Informationen. Da war etwas gewesen. Ja genau! Die Spurensicherung hatte tiefe Reifenabdrücke von einem Quad gefunden. Sie hatte Scherze darüber gemacht, wie dick der Besitzer wohl gewesen wäre und ob er das mit der »Bewegung an frischer Luft« nicht falsch verstanden hätte. Konnte die Leiche mit diesem Fahrzeug transportiert worden sein? Wäre das nicht aufgefallen und müssten dann die sandigen Spuren nicht auf der Straße zu verfolgen gewesen sein? Sam schob die Plane ein Stück weiter zurück und entdeckte eine Halterung am Quad. Eine Halterung wofür? Mit der Klasse hatte Sam mal eine Quadtour gemacht und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass eines der Fahrzeuge so etwas montiert hatte.
Sie schlich durch die Halle auf der Suche nach weiteren Spuren. So leise sie sich auch bewegte, in ihren eigenen Ohren klang jedes kleinste Geräusch unendlich laut. In der Halle gab es eine große Werkbank mit Werkzeug und eine kleine Kiste mit Autoschlüsseln. Ein einzelner lag daneben. Außerdem entdeckte sie eine leere Packung Schrotmunition. Es war also nicht ausgeschlossen, dass der Kerl eine Waffe besaß und Sam musste vorsichtig sein. Auf der anderen Seite der Halle standen Kisten und Kunststoffwannen. Sam steuerte gezielt auf eine besonders große Wanne zu. Sie warf einen Blick zurück zum Quad. Von der Größe her konnte diese Wanne in die Halterung passen. Sie kletterte über zwei Kisten hinweg und stöhnte auf. In der Wanne lag zusammengerollt, ein großer, schwarzer Müllsack. Hastig griff Sam in ihre Hosentasche und zog Einweghandschuhe hervor. Sie trug immer welche bei sich und auch das hatte schon für Spott und Hohn gesorgt, als sie sich die Nase putzen wollte und ein Handschuh mit dem Taschentuch aus der Hosentasche gefallen war. Dumme Sprüche, ob ihr Rotz so gefährlich sei, dass man Handschuhe dafür bräuchte. Sam hatte die Theorie unkommentiert stehen lassen. Nun zog sie die Handschuhe an und griff vorsichtig nach dem schwarzen Sack. Als sie einen kleinen Riss darin bemerkte, gefror ihr das Blut in den Adern. Sie brauchte ihn nicht ganz zu entrollen, um ein paar Haare zu entdecken, die sich in dem Sack befanden.
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Sam griff hastig nach ihrem Handy und wählte die Nummer ihres Vaters. Als das vierte Freizeichen ertönte, vernahm Sam ein weiteres Geräusch. Es waren Schritte und der Besitzer des Schrottplatzes betrat die Halle. Sofort beendete Sam den Anruf und schaltete ihr Handy stumm. Ihr Vater würde sie bestimmt gleich zurückrufen wollen. Sie verbarg sich, so gut es ging hinter einer Kiste und schrieb ihrem Vater hastig eine Nachricht. Anschließend beobachtete sie den Mann mittleren Alters, der sich wieder um den Reifen des Lieferwagens kümmern wollte. Er trug einen Blaumann und hatte die fettigen schwarzen Haare mit einem Gummi zusammengebunden. Als er jedoch um den Wagen herum ging, blieb er abrupt stehen und sah zu der Ecke, in der sein Quad stand. Sam rutschte das Herz in die Hose, denn sie hatte die Plane nicht wieder über das Fahrzeug gezogen. Der Mann drehte sich um und jetzt konnte Sam sein Gesicht sehen. Grimmig suchte er mit seinen fast schwarz wirkenden Augen die Halle ab und kam langsam auf sie zu. Sam hielt die Luft an und bewegte sich nicht. Sie saß in der Falle und konnte nur hoffen, dass ihr Vater ihren Notruf gesehen hatte und auf dem Weg war. Der Mörder ist auf dem Schrottplatz. Diesen Satz hatte Sam geschickt und anschließend das Handy in die Tasche gepackt. Ein Aufleuchten des Displays hätte sie verraten können. Nun hatte sie sich aber selbst verraten, weil sie die Plane nicht wieder über das Quad gedeckt hatte.
»Wen haben wir denn da?« Die Stimme des Mannes klang tief und zornig, als er Sam in ihrem Versteck entdeckte, sie grob an der Schulter packte und sie anschließend aus der Ecke in Richtung Werkbank schleifte. »Was hast du hier zu suchen und wie bist du reingekommen? Durch das Haupttor wohl kaum, das hätte mir die Glocke verraten.«
Sam zitterte, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie musste nur ein paar Minuten überbrücken. Zumindest hoffte sie das. Diese Zeit wollte sie nutzen, um möglichst viele Informationen zu erhalten.
»Sie haben den alten Mann auf dem Gewissen. Die Leiche, die im Wald gefunden wurde.«
»Und wie kommst du darauf?« Die Frage kam knurrig und gefährlich leise.
»Er war hier auf dem Schrottplatz, als er gestorben ist. Und Sie haben nachgeholfen! Dafür gibt es Hinweise an der Leiche. Außerdem hätten Sie sonst den Notruf alarmiert. Das haben Sie aber nicht getan! Sie mussten zuerst das Auto vom Hof schaffen, damit es niemand sieht. Also haben Sie es zum Parkplatz am Wald gefahren und sind zu Fuß zurück. Die Leiche konnten Sie sich kaum über die Schulter werfen, also musste die auf andere Weise fort. Alle Achtung! Das Quad in ihren Lieferwagen zu bekommen war vermutlich nicht ganz leicht. Damit konnten Sie den Müllsack transportieren. Aber auch mit der Plane drüber war das auffällig. Deshalb nur das kleine Stück in den Wald und die Leiche so platzieren, dass sie schnell gefunden wird und es wie ein natürlicher Tod aussieht. Die Spuren waren so tief, dass man auf einen besonders dicken Fahrer hätte tippen können. Oder eben auf zwei Personen, Sie und die Leiche in der Wanne. Wofür die Konstruktion? Sind Sie Jäger und transportieren Sie so ihr Wild aus dem Wald? Dann wäre der Anblick für die Leute aus der Gegend nicht einmal so ungewöhnlich.« Der letzte Gedanke war Sam spontan gekommen, als sie sich an die Packung Schrotmunition erinnerte. »Damit hatten Sie dann Auto und Leiche entsorgt. Aber Sie hatten etwas vergessen! Den Autoschlüssel vom Opfer. Der musste zum Opfer und dafür haben Sie sich das Auto ihres Vaters geliehen, sind zurück zur Leiche und haben ihn geworfen, um keine neuen Spuren zu hinterlassen. Der Schlüssel vom Opel, den ihr Vater nicht findet, liegt direkt hier auf der Werkbank.«
»Gut kombiniert. Nur zu schade, dass du es niemandem mehr erzählen wirst!«, erwiderte er. In diesem Moment erklang die Glocke und kündete die Streifenwagen an, die wenige Augenblicke später vor der Halle anhielten. Polizisten sprangen aus den Autos und richteten die Waffe auf den Mörder.
Sam war erleichtert. »Doch, ich denke, das werde ich.« Sam trat neben ihren Vater, der bereits die Handschellen hielt. Alles Weitere würde die Polizei erledigen. Wenn alles gut ging, würde sie ihre Polizeiuniform tragen, bevor dieser Typ die Gefängnisklamotten ablegen durfte. Grinsend sah sie dem Streifenwagen nach, der langsam vom Platz rollte.
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